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09.07.2023 / Orte und Plätze

Vergangenheit flüstert der Gegenwart

Von Ottmar Fischer. Unter blauem Himmel versammelte sich am 13. Mai zum Tag der Städtebauförderung eine Schar von fünfzig Interessierten auf dem Vorplatz der Bezirkszentralbibliothek in der Tempelhofer Goltzstraße, um der feierlichen Eröffnung eines neuartigen Geschichtspfades beizuwohnen, der von hier aus um den alten Dorfkern mitsamt der verschwundenen Tempelritterburg und der nach der Kriegszerstörung wieder aufgebauten Dorfkirche herum führt.
Auguste Kreideweiss mit ihrem Sohn im Garten ihres Restaurants 1899. Foto: Museen Tempelhof-Schöneberg

Dieses Angebot aus dem Verantwortungsbereich der Museen des Bezirks Tempelhof-Schöneberg bietet unter dem Namen „Geschichtsgeflüster Tempelhof“ sowohl Einheimischen als auch Touristen auf einem ausgeschilderten Rundweg einen Einblick in 800 Jahre Ortsgeschichte. Auf diesem Spaziergang durch die Geschichte steht im Internet ergänzend zum Augenschein an jeder der zehn Informationsstelen ein über QR-Code abrufbarer Podcast zur Verfügung, der alle nötigen Informationen zum jeweiligen Standort zu Gehör bringt. Und außerdem sind unter www. geschichtsgefluester.de alle Infos auch nachzulesen, und das um historische Fotos ergänzt.
Wie Stadtrat Dollase (CDU) in seiner Eröffnungsrede darlegte, stammt die Idee zu dieser Tempelhofer Geschichtstour  aus der Beteiligung der Bürgerschaft im Planungsprozess für das Vorhaben „Neue Mitte Tempelhof“, der seit Juli 2017 läuft und die Neugestaltung der Gegend rund um die Bibliothek zum Ziel hat.

Dabei soll einerseits die in die Jahre gekommene Gebäudestruktur etwa von Bibliothek und Polizei ertüchtigt werden, andererseits aber auch die soziale Infrastruktur ergänzt und erweitert werden, durch Volkshochschule und Musikschule, im Schwimmbad, in der Jugendfreizeitstätte und im Pfadfinderheim. Außerdem sollen 500 neue Wohnungen  entstehen, für deren zukünftige Nutzer somit neben der attraktiven Grünanbindung und der verbesserten Infrastruktur mit dem Geschichtsgeflüster nun auch noch eine bezirksamtliche Begrüßung in Form einer  Einführung in die Lokalgeschichte hinzukommt. Das sollte in ganz Berlin Schule machen!

Hören und Sehen im Gehen

Und die ansprechende Form für ein solches Angebot ist von der Firma museeon gefunden worden, die auch mit den Staatlichen Museen Berlin zusammenarbeitet. Ihren Ansatz erläuterte Julia Tödt dahingehend, „dass wir kuratorisch von der Frage ausgegangen sind, wie Leute angesprochen werden können, die nicht schon selbst aus Interesse an historischen Themen nach Informationen suchen“. Entsprechend benutzerfreundlich ist tatsächlich das Ergebnis geworden. Wo also demnächst in Abkehr von den früher üblichen Sünden der Stadtplanung ein Stadtquartier mit Dorfkern oder ein dörfliches Quartier mit Stadtkern entstehen wird, gibt es nun auch ein Angebot, auf einem etwas ausgedehnteren Spaziergang, und von verständlich sprechenden Fachleuten am Ohr begleitet, das eigene Wohnumfeld von Grund auf kennenzulernen. Und weil es dabei um Grund und Boden geht, beginnt man mit der eigenen Forschung am besten am Reinhardtsplatz, wo an der dortigen Stele per Internet dem lockeren Gespräch zweier Geologinnen zu lauschen ist, die den Tempelhofer Untergrund auf Überbleibsel der abgetauten Gletscher der letzten Eiszeit zurückführen. Danach sammelte sich unter dem unvorstellbaren Druck von bis zu tausend Metern Eis in den dadurch entstandenen Hohlräumen viel  Schmelzwasser und bildete zusammen mit dem Regenwasser Ablaufrinnen und zahlreiche Pfuhle. Um 1800 waren noch etwa einhundert davon übrig und hundert Jahre später verschwanden bis auf rund zwanzig auch die restlichen infolge des Baus des Teltowkanals, wobei der Reinhardtplatz aus dem zugeschütteten „Grundpfuhl“ entstand.

Und so wie dieser Platz über seinen Namen noch einen weiteren Bezug hat, denn er verweist auf einen der vielen Rittergutsbesitzer, die nach der Auflösung des Ritterordens in den Besitz des Templergutes gelangten, über dessen Geschichte an einer anderen Stele viel zu erfahren ist, so verhält es sich auch mit dem heutigen Straßennamen Alt-Tempelhof. Denn wie den Spurensuchern an den beiden Stelen Dorfkirche und Dorfanger berichtet wird und der Augenschein es auch bestätigt, verweist zwar noch der Grünstreifen auf den mittelalterlichen Dorfanger, doch die alte Dorfstraße selbst hat ihren Charakter als bebaute Reihung von Bauerngehöften gänzlich eingebüßt. Viele der ursprünglich strohgedeckten Häuser fielen dem Feuer zum Opfer. Und von den Nachfolgebauten kann auch nur noch das Gebäude an der Ecke Alt-Tempelhof 36 in der Bauweise von 1830 bestaunt werden. Bauernhöfe jedoch gibt es hier nicht mehr. Alle im 13. Jahrhundert hier zur Finanzierung des Ritterordens der Templer eingerichteten und zu hohen Pachten vergebenen „Hufen“ sind verschwunden, wie auch das Rittergut selbst, sodass nun die im Internet aufrufbare Zeichnung eines Historikers vom damaligen Aussehen der Anlage eine Vorstellung vermitteln muss. Dort kann man auch erfahren, dass unter einer Hufe jene Ackerfläche verstanden wurde, die von einer Familie mit dem Pflug bewirtschaftet werden konnte.

Vom Acker machen

Noch heute wird im Volksmund von „ackern“ gesprochen, wenn von schwerer Arbeit die Rede ist. Entsprechend leicht ist zu verstehen, dass auch die Tempelhofer Bauern ihre Felder gern in klingende Münze verwandelten, sobald sich dazu eine Gelegenheit bot. Und das war schon 1722 erstmals der Fall, als der Soldatenkönig das „Tempelhofer Feld“ als Exerzierplatz für seine Uniformierten zusammenkaufte. Eine weitere Gelegenheit bot sich, als ebenfalls auf Anregung des Soldatenkönigs der Unternehmer Vierhoff ein Anwesen für die Anzucht von Maulbeerbäumen suchte, um darauf den Rohstoff für die Seidenspinnerei zu erzeugen. Er erwarb dazu ausgerechnet Haus und Hof der Dorfschulzenfamilie Lehne, die dieses Amt hier von Generation zu Generation ausgeübt hatte. Für den Unternehmer erwies sich die Investition allerdings als Fehlschlag, denn das Projekt misslang. Als mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Berliner Stadtwucherung schließlich auch vor dem Halleschen Tore wirksam wurde und die „Tempelhofer Vorstadt“ ihre Schatten vorauswarf, begannen sich die Verkaufsgelegenheiten dann zu häufen. Adel, Bürgertum  und Bauernschaft verfielen gleichermaßen einem überbordenden Spekulationsfieber. Und mit dem Rausch des schnellen Geldes wuchs auch die Vergnügungssucht.

Wie in Schöneberg und den anderen Vorstädten entstanden auch in Tempelhof zahlreiche Biergärten und Gaststätten für die Berliner Ausflügler. Aus dem alten Dorfkrug, für den einst neben sechs Groschen Pacht auch ein Pfund Pfeffer an das Rittergut zu entrichten war, entstand schon 1828 die später in ganz Berlin berühmt gewordene Gaststätte der Familie Kreideweiß, woraus um 1900 ein „Etablissement“ mit Tanzsaal und Kegelbahn wurde. Die Stele an der Kreuzung mit dem Te-Damm weiß zu berichten, dass der damalige Sänger der „Rixdorfer Polka“ auch in diesem Fall den richtigen Ton zu treffen wusste: „Mittwochs mache ick mir tot, fahre raus nach Tempelhof. Ob es kalt is oder heiß, schön is et bei Kreideweiß.“ Da besonders für Militärs auch die Pferderennbahn im nahen Mariendorf ein beliebtes Ausflugsziel war, wurde ein Aufenthalt bei Kreideweiß immer beliebter, sodass selbst Wilhelm I und II hier zu sehen waren.

Und wo so viele Taler von einem zum andern wandern, da mochte auch ein Nachfahre der alten Dorfschulzenfamilie Lehne nicht abseits stehen und ließ gegenüber am alten Dorfanger-Eck ebenfalls eine lukrative Gaststätte entstehen, sodass im Volksmund gern von „Vater Lehne“ gesprochen wurde, wenn auf „Mutter Kreideweiß“ von gegenüber angespielt werden sollte. Und von der wurde damals viel Anekdotisches erzählt. So soll die sowohl für ihre Kochkünste als auch für ihr Durchsetzungsvermögen bekannt gewesene  Auguste Kreideweiß einmal einem Kellner, den sie ertappt hatte, als er ein Bratenstück für eigene Zwecke in seine Tasche schob, kurzerhand die Bratensoße hinterher geschüttet haben. Da offizielle Ehrungen aber nicht nach Würze sondern nach Verdienst erfolgen, ist der nahe Lehne-Park nach der Familie ihres Konkurrenten von gegenüber benannt worden, der allerdings auf dem Acker der Vorfahren entstanden ist. Dort kann heute auch der Suchende auf den Spuren der Tempelhofer Geschichten einen beschaulichen Abschluss finden. Wer sich an den Stelen Lehnepark und Klarensee informiert hat, wird umso mehr davon haben, wenn es um die Beobachtung von Pflanzen und Tieren  geht, oder wenn auch nur ein ruhiger Spaziergang im Schatten der wieder aufgebauten alten Dorfkirche ansteht, entlang an gleich drei Gewässern und unter alten Bäumen.

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