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26.05.2022 / Gewerbe im Kiez

Ukrainische Literatur entdecken (Teil 2)

Von Eva Schenk und Elvira Hanemann. Der unbarmherzig und unmenschlich geführte Krieg Russlands gegen die Ukraine und unser Mitgefühl mit dem Leid der Ukrainer und die Bewunderung für ihren Widerstand lassen uns einen Blick auf die Romane ukrainischer Literatinnen und Literaten richten. Elvira Hanemann und Eva Schenk möchten Ihnen in Kurzrezensionen einige Texte vorstellen, die für sie neue literarische Entdeckungen sind und  Einblicke in das Leben in der Ukraine geben.
Buchcover

Walerjan Pidmohylnyj
Die Stadt
Aus dem Ukrainischen von: Lina Zalitok, Jakob Wunderwald, Lukas Joura, Alexander Kratochvil
Guggolz Verlag, 26 Euro

Dieser ukrainische literarische Klassiker wurde zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Das Buch entstand 1928 in der Zeit der „Ukrainisierung“, die nur kurz dauerte und bald von Stalin gestoppt wurde. Der Autor wurde in einem Stalin’schen Lager getötet.
Bei der „Stadt“ handelt es sich um Kiew in den 20er Jahren. Der junge Stepan kommt aus dem Dorf und ist begeisterter Anhänger der Revolution, er freut sich auf die Universität und auf das Stadtleben, doch schnell wird er desillusioniert. Wir verfolgen seinen Werdegang vom Bauernjungen zum erfolgreichen Schriftsteller. Sympathisch ist dieser launische, egoistische und in seiner Einstellung Frauen gegenüber unerträgliche junge Mann zwar nicht, doch durch seine Augen er-leben wir eine politisch hochinteressante Zeit und einen unbekannten Blick auf eine andere Welt.
Das Buch wird der Weltliteratur zugerechnet und der Autor verglichen mit Döblin und James Joyce.

Andrej Kurkow
Der Milchmann in der Nacht
Übersetzt von Sabine Grebing
Diogenes Verlag, 13 Euro

Diese Geschichte über drei Paare in der Ukraine ist sehr amüsant zu lesen: witzig, ironisch und voller liebevoller Zeichnung von sehr skurrilen Charakteren. Eine gelungene Mischung aus schwarzem Humor mit einem Einschlag ins Krimi-Genre, Politsatire und absurdem Geschehen. Katzen, die durch ein geheimnisvolles illegales Medikament zu Rächern für die Gerechtigkeit werden, Ehefrauen, die ihre plastinierten toten Ehemänner in den Wohnzimmersessel setzen, reiche Politiker, die durch frische Muttermilch ihre Jugendlichkeit bewahren und eine geheimnisvolle neue Religion (oder doch politische Partei?), die sich an Mondsüchtige wendet. Der Roman sprüht vor schrägen Ideen und macht auf jeden Fall Lust auf noch mehr von diesem Autor!

Andrej Kurkow
Graue Bienen
Übersetzt von Sabine Grebing
Diogenes Verlag  24 Euro

Andrej Kurkow, Jahrgang 1961, lebt in Kiew, ist russischsprachig, aber kritisiert Putins Politik.
Dieser Roman, 2019 erschienen, spielt im Donbass, im Osten der Ukraine. Sergej ist Bienenzüchter, wegen seiner Staublunge, die er sich bei der Arbeit im Bergwerk zugezogen hatte, ist er Frührentner. In seinem Dorf sind nur noch er und ein weiterer Mann übrig geblieben. Alle anderen sind weggezogen, denn das Dorf liegt in der „grauen Zone“ zwischen dem Gebiet der Separatisten und der restlichen Ukraine. Immer wieder wird geschossen. Sergej sieht sich gezwungen, das Dorf zu verlassen, um seine Bienen zu retten. Über Umwege landet er auf der Krim, wo er sich im Garten eines anderen Bienenzüchters niederlässt. Doch dieser, ein Krimtatar, ist verschollen. Sergej hilft seiner Frau, ihn zu finden, zumindest versucht er das.
Ein Roman über einen Mann, der durch seinen etwas naiven, aber sehr menschlichen Blick ein Schlaglicht auf die politischen Wirren, auf die Schrecken des Krieges und das Leben der einfachen Menschen in schweren Zeiten wirft. Warmherzig, humorvoll und sehr schön zu lesen!

Serhij Zhadan
Internat
Übersetzt von Juri Durkot und Sabine Stöhr
Suhrkamp Verlag 22 Euro

Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, gehört seit 1991 zu den wichtigen Figuren der jungen literarischen Szene der Ukraine, er lebt in Charkiw.
Pascha, ein alleinstehender Lehrer, ein angepasster konfliktscheuer und schüchterner Mensch macht sich auf den Weg quer durch die Stadt, um seinen Neffen aus dem Internat nach Hause zu holen.
Der 13-jährige Junge ist nicht mehr sicher in dem Internat, doch auf dem Weg dahin merkt Pascha immer mehr, dass es nirgends mehr sicher ist: Begegnungen mit Soldaten (die unsrigen, die anderen), mit Journalisten und Kriegsberichterstattern, aber vor allem mit Menschen, die in Kellern und Bahnhöfen Schutz suchen, verstören und ängstigen ihn. Kälte, Nässe, Beschuss von verschiedenen Seiten – die dauernde Angst, dass die Papiere, die er dabei hat, nicht ausreichen werden führen zu großer Verzweiflung.  Pascha ist alles andere als ein Held, aber er beißt sich durch. Verletzte, Tote und Menschen in Angst und Schrecken – das begegnet ihm, aber auch Menschen, die sich in Zeiten des Krieges ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Die drei Tage, die er braucht, um seinen 13-jährigen Neffen wieder nach Hause zu bringen, werden in großer Eindringlichkeit beschrieben. Zhadan ist ein Meister der Atmosphäre und der punktgenauen Metaphern.
Dieser packende und bewegende Roman zeigt uns deutlich, dass der Krieg in all seiner Grausamkeit schon früher in der Ukraine stattfand, nicht erst heute.

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