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01.03.2020 / Menschen in Schöneberg

Murrende Mägen

Ein „Hungerwinter“ war es nicht, doch die Lebensmittelversorgung blieb auch zum Jahreswechsel 1919/1920 mehr als kläglich.
Foto: Archiv Heimatverein Steglitz e.V.

Schon im Herbst 1919 befürchtete die Friedenauer Gemeindevertretung „eine Kartoffelnot“ und begründete sie eilfertig mit einem ganzen Katalog äußerer Widrigkeiten: reduzierte Anbaugebiete wegen der erzwungenen Landabtretungen aus den Versailler Vertragsverpflichtungen, schlechte Ernteergebnisse, da kein Dünger mehr importiert werden konnte, fehlende kräftige Hände, da viele Männer an der Front gefallen oder durch schwere Kriegsschäden nicht arbeitsfähig waren, fehlende Eisenbahnwagen, so dass man gezwungen sei, die wenigen vorhandenen Kartoffeln in offenen Waggons zu transportieren, was zu massivem Diebstahl führe und die Kartoffelmenge um etwa ein Drittel reduziere. Dass die Not auch hausgemacht war und die Widrigkeiten im Lebensmittelamt selbst, an der mangelnden Transparenz der Zuständigkeiten, an den Missständen bei der Lebensmittelverteilung lag, wurde erst deutlicher, als man sich bereits an den Mangel gewöhnt hatte. Als Kartoffelersatz bot man den Hausfrauen notgedrungen wieder die verhassten Kohlrüben an, die „so fruchtbar seien, dass sie sogar aus dem Halse wachsen“.

Dem Mangel an Kartoffeln folgte der Mangel an Getreide. Im Januar meldete der Friedenauer Lokal-Anzeiger, es fehle Brotgetreide für zwei Monate. Im Februar hieß es, die Mehlrationen der Friedenauer werde von 260 g auf 200 g pro Person und Tag und die Brotration von wöchentlich 2.350 g auf 1.900 g herabgesetzt.

Den raren Lebensmitteln folgten steigende Preise. 1914 konnte sich eine vierköpfige Familie noch von 26,- Mark in der Woche satt essen, 1920 musste sie weit über 100 Mark für die wenigen rationierten Lebensmittel ausgeben, die man überhaupt auf den zugeteilten Marken bekommen konnte.

„Haben wir großes Glück, dann können wir schon für 2,50 Mark ein ganzes Ei erstehen, meistens sehen wir aber nicht einmal welche“. schrieb eine Hausfrau im Februar 1920 dem Friedenauer Lokal-Anzeiger. „Den Luxus, ein Ei zu kaufen, muss man unter diesen Umständen den mit Glücksgütern reichlich bedachten Menschen überlassen ... Wir müssen uns ein Ei von draußen in irgendeinem Schaufenster ansehen.“

Daneben blühte das Schwarzmarktgeschäft. Reiche Aufkäufer entzogen dem Markt riesige Mengen an Lebensmitteln, transportieren sie im Auto weg und verkauften sie anschließend zu Wucherpreisen. So wurde 1 kg Rindfleisch für 20-36 Mark statt regulär für 3,90 M angeboten. Von einer Butterschwindlerin wurde Butter „günstig“ für 26,- Mark statt des üblichen Schwarzmarktpreises von 34,- Mark (regulär 19,60 M) verkauft. Hinterher erfuhren die Käufer jedoch, dass sie Margarine statt Butter gekauft hatten. Zwar galt eine Höchstpreisverordnung, die bei Zuwiderhandlung Gefängnis oder bis zu 200.000 Mark Strafe vorsah, doch das Risiko erwischt zu werden, war eher gering. Jedenfalls meldete das „Wuchergericht Potsdam“ nur wenige Verurteilungen.

Vielen Menschen blieb der Schleichhandel allerdings verschlossen. Kinderreiche Familien, Arbeitslose und Rentner waren verarmt und nicht in der Lage, die dort geforderten Preise zu bezahlen. Manche ernährten sich fast nur noch von Suppen. Viele Kinder waren unterernährt und als Folge davon rachitisch oder tuberkulös.
Hinzu kam die minderwertige Qualität der gelieferten Lebensmittel. Zahlreiche Hausfrauen beklagten sich über ungenießbare Marmeladen, gefrorene und süß gewordene Kartoffeln, gefährliche Haferflocken, die Hunderte von harten, spitzen Spelzen enthielten und in der Speiseröhre stecken blieben, was zu Erstickungsanfällen bei Kindern führe.

„Der Herr Lehrer in der Schule muss sich wohl doch geirrt haben, als er den Hafer zu den Körnerfrüchten zählte; denn hier wird er uns als Hülsenfrucht präsentiert. Tatsächlich sitzen die Hülsen oder Schalen in so unglaublicher Menge noch so innig und fest daran, dass es einem leid tun kann, ein solch zärtliches und festes Verhältnis mit roher Hand gewaltsam und zeitraubend lösen zu müssen.“

Freimütig gab eine Hausfrau zu: „Aus diesem Grund habe ich heute ein nahrhaft gekochtes Gericht, bestehend aus zwei Pfund Haferflocken (obwohl fünfmal gewaschen) und einem Pfund Backpflaumen (M. 6,20) weggeworfen, um niemanden in Gefahr zu bringen. Warum nimmt die Gemeinde solche minderwertigen Lebensmittel an?“

Statt der erhofften Solidarität erntete die ehrliche Hausfrau Kritik:  „Man kann dem Lebensmittelamt doch wohl unmöglich vorwerfen, dass ihr Gericht den Kostenaufwand von 6,20 Mark für Pflaumen verursacht hat. Ihren Fehler sehe man schon an dem 5-maligen Waschen, da  die besten Nährstoffe ausgeschüttet werden…“ „Mit Nörgeleien solle man doch lieber sparsam sein, verrate man doch dadurch nur seine Unkenntnis in der Kochkunst.“  „Es liegt an der Findigkeit der Hausfrau, auch minderwertige Erzeugnisse in ein besseres Gewand zu stecken.“

Dann folgten praktische Tipps und Kochlektionen: „Die Haferflocken lieber statt fünfmal zu waschen nach dem Kochen einmal durch ein Sieb rühren!“ „Man muss Wasser am Vorabend auf die Haferflocken gießen. Am nächsten Morgen kann man bequem die oben schwimmenden Hülsen und Spelzen abschöpfen, da die voll gesogenen nahrhaften Haferflocken zu Boden gesunken sind.“ „Statt der Backpflaumen einfach die Haferflocken in kochendes Wasser schütten und Salz, Zucker und etwas Zitronenschale hinein. Dies ergibt eine herrliche, wohlschmeckende, sehr nahrhafte und billige Abendsuppe.“ Eine weitere Möglichkeit: „… in der rechten Hand den Esslöffel, die linke zum Hineinspucken der ungezählten Hüllen und Spelzen gekrümmt.“

Heute schmunzeln wir über die Spelzenprobleme vor 100 Jahren und kauen beruhigt unser Müsli aus hochgezüchtetem, spelzenlosem Nackthafer.

Maria Schinnen

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