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26.05.2022 / Projekte und Initiativen

#metoo

Von Ottmar Fischer. Als im Oktober 2017 die Schauspielerin Alyssa Milano ihre Idee veröffentlichte, die Opfer sexueller Belästigung sollten ihre Erlebnisse unter dem Hashtag #metoo bekanntmachen, löste sie eine in ihren Dimensionen wohl von ihr selbst nicht geahnte Welle von Bekenntnissen aus.
Foto: Achilleus’ Übergabe von Briseis, Wandgemälde aus Pomeji, 1. Jh. n. Chr., CC BY-SA 4.0

Allein in den ersten 24 Stunden nach ihrem Tweet meldeten sich auf Facebook 12 Millionen Betroffene zu Wort. Seither ist diese Welle nicht etwa verebbt oder versandet, sondern hat sich ausgeweitet. Inzwischen geht es in der öffentlichen Debatte nicht mehr nur um konkrete Fälle, sondern darüber hinaus auch um den Zusammenhang von gesellschaftlichen Machtstrukturen und sexualisierter Gewalt. Und es geht um Erscheinungsformen in Kunst und Literatur, Film und Medien.

In ihrem im letzten Jahr erschienenen Buch „Die abgetrennte Zunge“ ist die an der Kieler Universität lehrende Altphilologin Katharina Wesselmann nun der Spur von sexualisierter Gewalt in den antiken Überlieferungen nachgegangen und stellt im Ergebnis die Frage, ob die dort aufgefundene Gewaltverherrlichung, auch im Geschlechterverhältnis, überhaupt noch lehrplanfähig ist. Zwar seien die Griechen noch Vorbilder für Demokratie, Philosophie und Theater, die Römer für Verwaltung und Recht. Doch seien sie beide auch Verfechter von Gewalt und Patriarchat, und damit eben auch keine Vorbilder mehr. In ihrer Kunst und Literatur finde sich durchweg ein männlicher Blick auf die Frau, ohne den weiblichen Blick auf den Mann zuzulassen, geschweige denn das Gespräch unter Frauen. Vielmehr werde das Geschehen stets aus männlicher Perspektive geschildert und legitimiere männliche Gewalt auch im Geschlechterverhältnis. Und das gelte auch für den bis heute als Urvater der europäischen Erzählkunst verehrten Homer.

Seine „Ilias“ beginnt bekanntlich mit der Schilderung des Zorns seines Haupthelden Achilleus, der sich an der Eroberung Trojas nicht mehr beteiligen will, weil sein Oberbefehlshaber Agamemnon ihm seine Kriegsbeute Briseis unter Hinweis auf seinen höheren Rang weggenommen hat. Die kommt ihrerseits in der Auseinandersetzung erst gar nicht zu Wort, denn sie hat als Sexsklavin des Stärkeren keine eigene Wahl, sondern hat demjenigen unter den Männern selbstlos zu dienen, der am meisten Macht aufbieten kann. Aber da der Kampf um Troja bei Homer nicht ohne Achilleus zu gewinnen ist, erhält er seine Beute schließlich zurück, wodurch nicht nur die Befriedigung seiner sexuellen Wünsche wieder hergestellt wird, sondern auch seine verlorene Ehre. Und auch jetzt wieder ist Briseis dem Autor kein eigenes Wort wert.

Um die Ehre ging es bekanntlich auch dem Bruder von Hatun Sürücü, als er sie in der Schöneberger Oberlandstraße erschoss, weil sie nicht in der Gewalt ihres Ehemanns bleiben wollte, der ihr vom Patriarchat ihrer Ursprungsfamilie auferlegt worden war, und den sie verlassen hatte, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte, statt sich dem Diktat eines unerwünschten Mannes unterwerfen zu müssen. Und um die gekränkte Eitelkeit eines verlassenen Ehemannes ging es unlängst auch bei der Ermordung einer sechsfachen Mutter in Pankow. Diese Fälle zeigen, dass die archaischen Vorstellungen von männlicher Ehre und sexualisierter Gewalt, so wie sie schon von der in Homers Epos stummgeschalteten Briseis ausgehalten werden mussten, sogar in unserer eigenen Gesellschaft noch anzutreffen sind, obwohl in unserem Land die Geschlechtergerechtigkeit seit hundert Jahren Verfassungsrang hat. Immerhin ist bei uns die Rechtsprechung gesetzestreu und tritt allen Versuchen zur Wiederherstellung von Leibeigenschaft entgegen, auch der in der Ehe. Der Gedenkstein für Hatun Sürücü an ihrer Todesstätte und die alljährlich dort durch das Bezirksamt wiederholten Gedenkfeiern zeigen zudem, dass der Kampf gegen jede Form sexualisierter Gewalt hierzulande Staatsräson ist.

Die abgetrennte Zunge
In Putins Russland gibt es dagegen einen vorläufig erfolgreichen Versuch, sowohl im Geschlechterverhältnis als auch in der Staatsauffassung zu vormodernen Formen zurückzukehren. Denn nach der Durchsetzung seiner Alleinherrschaft in Russland greift Putin nun auch über die Landesgrenzen hinaus und rechtfertigt seinen Überfall auf die Ukraine in einer im russischen Staatsfernsehen übertragenen Einlassung bezeichnenderweise mithilfe der Umdeutung einer grinsend vorgetragenen, altrussischen Liedzeile:“Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, fügen musst du dich doch!“ In diesem Staatsverständnis als Vergewaltigungsfantasie ist die Ukraine also gleichzusetzen mit der Briseis des Homer, die sich dem mächtigsten Gewaltherrscher zu fügen hat, er heiße nun Agamemnon oder Putin.

Wie der nach einem nacherzählten Mythos aus den „Metamorphosen“ des Ovid treffend gewählte Buchtitel „Die abgetrennte Zunge“ anschaulich macht, wird der geschundenen Briseis bei Homer neben ihrem Naturrecht auf  Selbstbestimmung auch das eigene Sprechen über das Unsagbare verweigert. Und ganz ähnlich hat auch die Ukraine in der Welt des Allherrschers Putin kein Recht auf Selbstbestimmung und Mitsprache, sondern hat sich seiner Willkür zu fügen. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch seine Soldaten keine Hemmungen mehr haben, es ihrem Oberherrn gleichzutun. So wurde kürzlich aus dem Donbass bekannt, dass dort im Keller eines zerbombten Hauses eine Fünfzehnjährige im Beisein ihrer infolge von Verletzungen verblutenden Mutter von russischen Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde.

Die erschreckenden Ereignisse in der Ukraine machen deutlich, dass dieser vorzeitliche Kriegsherr Putin für die Gestaltung einer europäischen Friedensordnung kein Partner mehr sein kann, denn seine Vorstellungen stammen aus dem Altertum der Menschheitsgeschichte, als fremde Gebiete von Mordbanden heimgesucht wurden und Frauen Kriegsbeute waren. Daher darf die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren, wie der Bundeskanzler in seiner Ansprache zum Jahrestag des Weltkriegsendes erneut festgestellt hat, und Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Denn sonst geht der Rückfall in die Barbarei in ebender furchtbaren Weise weiter, wie das in den von Russland besetzten Gebieten bereits sichtbar geworden ist, mit Plünderung, Massenvergewaltigung und Mord, mit der Auslöschung von Demokratie und Freiheit – und der Praxis der abgetrennten Zunge: beginnend mit dem Verlust der ukrainischen Identität, dann der europäischen.

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