Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

26.05.2022 / Stadtteilzeitung separat (Zeitungsinhalte)

Hut und Architektur

Von Maria Schinnen. Man lernt doch nie aus. Wenn man bisher geglaubt hat, die Mode entstehe spontan, unberechenbar, so belehrt ihn der Friedenauer Lokalanzeiger in seiner Aprilausgabe 1901 eines Besseren. Auch die Mode, so schreibt der Autor des Artikels, müsse sich  bestimmten, wenn auch zum großen Teil noch unbekannten Gesetzen unterwerfen. Da sei zum Beispiel der Hut.
Hutladen, 2016. Foto: Holger Schmitt, CC BY-SA 4.0

Es sei offensichtlich, dass die Hutformen durch die Architektur der Dächer, die in einem Land zu einer bestimmten Zeit üblich waren, geprägt werden. Der Mensch, so der Autor, bedecke sein Haus und seinen Kopf mit Modellen, die in ihren Formen ähnlich seien. Das sei nicht verwunderlich, hätten doch Dach und Hut ähnliche Aufgaben. Beide sollen vor Witterungseinflüssen schützen, das Dach schütze die Fassade, der Hut das Gesicht. Das geschehe dadurch, dass Dächer vorspringende Flächen und Hüte oft breite Ränder hätten. So der „Normalhut“:  Er bestehe aus einer Kappe und Rändern. Diesen Prototyp trage beispielsweise Merkur, der Gott des Handels. Ganz anders bei den „wilden Völkerschaften“. Sie bedienten sich der Ränder nicht. Ihr Hut sei ein kegelförmiger Strohhut, ähnlich der Dächer ihrer Häuser und Hütten, denen ebenfalls ein mit Dachstroh gedeckter Kegel aufsitze. Der Kaiser von Korea dagegen trage einen Hut mit erweiterten, gekrümmten und aufwärts strebenden Ecken, der die Gestalt eines Kioskdaches habe. Die Damen des Mittelalters bekleideten ihre Häupter mit Spitzhauben, sehr praktisch, denn sie wohnten in Turmstuben, deren Dächer oben spitz zuliefen. Ein flaches Viereck legten sich die Italienerinnen über die Haare. Das passe perfekt zu den Flachdächern ihrer Häuser. Der finstere, mürrische Spanier dagegen trage einen abscheulichen, die Augen verdeckenden Hut, der zu ihren düsteren Häusern passe. Die Türken blähten ihre Turbane auf wie die Kuppeln ihrer Moscheen. Und der Mann der Gegenwart, der inmitten der Wunder der Industrie lebt, habe unbewusst seinen „Kopfdeckel“ dem Erscheinungsbild der Fabriken entnommen. Er erfand den Zylinderhut, ein wahrhaft modernes Symbol des Fabrikschornsteins.

Dieser Artikel ist keineswegs ironisch gemeint. Der Autor war von der skurrilen Idee fasziniert, Dach- und Hutformen miteinander in Beziehung zu setzen, Ähnlichkeiten zu entdecken und Gesetzmäßigkeiten zu konstruieren. Man muss ihm zugute halten, dass zu seiner Zeit die Fotografie noch keinen Einzug in die Zeitungen und Zeitschriften gehalten hatte, so dass man also wenig authentisches Material besaß. Abbildungen wurden druckgrafisch angefertigt, die sich oft vereinfachender Vorlagen und einseitiger Informationen bedienten und sie ungeprüft verbreiteten. So war es dem Autor kaum möglich, seine Urteile auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Er nährte sie ausschließlich aus vereinfachten Bildern, überbewertete bestimmte Details, verallgemeinerte sie unkritisch und fügte diese verallgemeinerten Details unzulässigerweise zusammen. So entstanden die Stereotypen, woraus er sein Urteil zementierte.

Das Denken in Stereotypenmustern und Klischees, mit denen Menschen gerade aus fremden Ländern belegt wurden, war zu jener Zeit nicht selten. Je weiter das Land entfernt lag, desto exotischer, desto bunter blühte die Fantasie. Angefacht und gefestigt wurde das Denken z.T. durch die beliebten „Völkerschauen“, also die Zurschaustellung von Menschen aus fernen Kolonien. Sie bedienten das Bild, das die Zuschauer bereits im Kopf hatten und bestätigten seine Stereotypen und Klischees. Auch in Friedenau gab es von März bis September 1907 eine solche Völkerschau, genannt „Wild-Afrika“, bei der in einem 85.000 qm großen „Vergnügungspark“ im heutigen Kleingartengebiet Südgelände afrikanische Eingeborene mit Baströckchen vor ihren strohgedeckten Hütten saßen oder mit Gerätschaften oder ihren Haustieren arbeiteten. Zum Baströckchen passte natürlich der Strohhut. In Wahrheit trugen die ausgestellten Menschen in ihrer Heimat solche Kleidung nicht. Sie kamen aus unterschiedlichen Gebieten Afrikas mit unterschiedlichen Klimaten, Traditionen und Religionen. Dementsprechend trugen sie in ihrer Heimat Kleider und Kopfbedeckungen, die aus diesen Traditionen, Religionen und Klimabedingungen herrührten. Die Baströckchenbekleidung festigte also das bereits vorhandene Klischee des Primitiven und Exotischen.

Auch der koreanischen Kaiser wurde mit einem Klischee belegt. Die Pagodenform war eine gängige Dachform für Tempel, also wurde ihm ein Hut dieser Gestalt angedichtet. In Wahrheit trug er einen schmalen kronenähnlichen Kopfschmuck.
Im Mittelalter gab es zwar den „Hennin“, eine hohe, kegelförmige Kopfbedeckung, deren Spitze häufig mit einem lang herabhängenden Schleier versehen war. Er war jedoch den adligen Damen vorbehalten, die wohl kaum in spitzbedachten Turmstübchen lebten. Neben dem Hennin gab es zahlreiche weitere Hauben- und Hutformen, die u. a. die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht verdeutlichten.
Auch die Italienerinnen trugen Kopfhauben aller Art, Hauben mit Quasten, Kopftücher, lange herabfallende Schleier, wulstartige Mützen, Hüte aus Maisstroh, aber keine flachen Vierecke auf ihrem Haar.
Ebenso die Spanier. Je nach Region und Gelegenheit trugen sie Baskenmützen, breitkrempige Hüte, Reithüte, Flamenco-Hüte.
Türken trugen meist den Fes, eine Kappe in Form eines Kegelstumpfes aus rotem Filz mit flachem Deckel und mit meist schwarzer, blauer oder goldener Quaste.
Was aber trug der elegante Mann in Deutschland um die Jahrhundertwende? Ja, der Zylinderhut war beliebt, daneben der Chapeau claque, eine Variante des Zylinderhutes, und vor allem die Melone.

Und welcher Hut ist heute modern? Das erfahren wir von Karl Valentin in seinem Sketch „Im Hutladen“. „Ja, was heißt heute modern?“, meinte die Verkäuferin auf seine Frage. „Es gibt Herren, sogenannte Sonderlinge, die laufen Sommer und Winter ohne Hut im Freien herum und behaupten, das sei das Modernste!“ Karl Valentin darauf: „So, keinen Hut tragen ist das Modernste? Dann kaufe ich mir auch keinen. Auf Wiedersehen!“

Karl Valentin brachte es auf den Punkt. Im Laufe der 1960er Jahre brach die Hutindustrie ein. Der Hut wurde Symbol der biederen und altmodischen Adenauer-Ära. Stattdessen wurden poppige, individuelle, freche Frisuren als Ausdrucksmittel des persönlichen Stils bevorzugt. Mit den Hüten verschwanden größtenteils auch die Hutläden und das Hutmacherhandwerk.

Inzwischen aber kommt der Hut langsam wieder in Mode. Hüte jedweder Formen und Materialien, ob klassisch, extravagant, romantisch, verspielt oder sportlich feiern ein Comeback. Geprägt wird die heutige Hutmode meist von Idolen und Personen des öffentlichen Lebens. Die Dachformen, unter denen die Trägerinnen und Träger wohnen, spielen eher keine Rolle. Doch die Architektin und Hutmacherin Mirija de Pauke, verrät, dass architektonische Formen wie Schwünge, Asymmetrien, 3-D-Objektwirkung durchaus Einfluss auf ihr Hut-Design haben. So falsch lag also unser Artikelschreiber gar nicht.

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