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22.12.2018 / Gewerbe im Kiez

Herztausig liebs Brüderl

Von Mitte Oktober bis Anfang November gastierte das Rheinische Figurentheater Richter mit seinem mobilen Theaterzelt in Tempelhof-Schöneberg. Auf dem Winterfeldtplatz, dem Breslauer Platz, in der Crellestraße und an der Trabrennbahn Mariendorf zeigten Manda und Helmut Richter das Puppentheaterstück „Der kleine Rabe Socke“.

In seiner „grauen Stadt am Meer“ muss es Theodor Storm einst selbst erlebt haben, so anrührend wie er 1874 in seiner Novelle „Pole Poppenspäler“ die Ankunft und das Auftreten der „fahrenden Leut“ schildert. Auf einem zweirädrigen Karren, der „von einem rauhen Pferde unter dem Gebimmel eines Glöckchens“ gezogen wurde, waren zwei große Kisten zu sehen gewesen, erzählt er, und darin war eben jenes aufregende Völkchen verborgen, das es bis in unsere Träume zu schaffen vermag. Jedenfalls dann, wenn wir jung sind, und später wenigstens dann, wenn wir noch darüber staunen können, welche Wunder wir einst für möglich hielten.

Der Erzähler dieser Geschichte jedenfalls weiß glaubwürdig zu berichten, dass damals, in der Nacht nach seinem ersten Besuch des wundersamen Puppenspiels auf dem Schützenhofe der Stadt, „der liebe Kasperl in seinem gelben Nankinganzug“ zu ihm ins Bett gesprungen sei, seine Arme zu beiden Seiten des Kopfes in die Kissen gestemmt habe, und grinsend auf ihn herabblickend gerufen habe: „Ach du herztausig liebs Brüderl!“ So hatte er es in der Aufführung gehört, und so ist es wohl heutzutage in keinem Puppenspiel mehr zu hören. Auch treten jetzt andere Figuren auf. Aber die fahrenden Leut gibt es noch, und auch die kleinen Leute in ihrem Gepäck.

Nur sind sie jetzt mit einem 190 PS starken Transporter unterwegs anstatt mit einem von nur einem Pferd gezogenen Karren. Denn neben den Puppen, Kulissen und Requisiten muss auch das übrige heute nötige Equipment von Ort zu Ort bewegt werden. Dazu gehören ein aus einem umgebauten Verkaufswagen ausklappbares Zelt, Sitzbänke für 120 Personen, der zum Zuschauerbereich offene Verkaufsstand mit Erfrischungen und Snacks, der nach außen als Kassenbereich dient, die Lautsprecheranlage und das Lichtmanagement, die Heizung mitsamt dem großvolumigen Belüftungsschlauch, und natürlich die weithin sichtbaren Stellwände mit den Ankündigungs-Malereien.

Am 4. November gastierte das „Rheinische Figurentheater“ für dieses Jahr zum letzten Mal auf dem Breslauer Platz, bevor es ins Winterquartier geht, diesmal nach Dresden, wo ein festes Zirkuszelt für zahlreiche Vorstellungen vorbereitet werden muss, und wo anschließend die nächste Tournée geplant und organisiert wird. Somit ruht im Winter nur die Reise, nicht aber die Arbeit. Doch die beiden Betreiber sind an Unrast gewöhnt. Beide stammen aus uralten Artisten-Familien, die schon im Mittelalter als Gaukler, Akrobaten und Dompteure unterwegs waren. Ihnen liegt also auch der Fleiß für die Ertüchtigung zu ihrer Kunst im Blut, neben dem Verzicht auf jene Bequemlichkei, die das Behagen des bürgerlichen Zuschauers auszumachen pflegt.  

Auch diese letzte Vorstellung war restlos ausverkauft. Gegeben wurde „Der kleine Rabe Socke“ nach dem Kinderbuch von Nele Moost, worin die bis zu einem Meter langen Figuren all jene Abenteuer vorführen, die der freche Titelheld mit seinen kleinen Freunden erlebt. Und der muss ab und zu auch lernen sich richtig zu benehmen, denn er macht vieles falsch, weil er eben noch nicht alles so richtig weiß. Und das kommt natürlich besonders den kleinen Zuschauern ziemlich bekannt vor, sodass sie darauf mit lebhafter Anteilnahme reagieren und durch ihren Beistand manches zum Besseren zu wenden vermögen.

Der Blick ins Zelt

Im Gespräch mit dieser Zeitung erklärt Helmut Richter, dass für jedes einstudierte Stück eigens dafür angefertigte Puppen zum Einsatz kommen, die bei renommierten Ateliers in Auftrag gegeben werden, die beispielsweise auch für die Sesamstraße arbeiten. Für die Rabengeschichte waren allein zehn Figuren zu gestalten, die alle handgefertigt wurden. Kostenpunkt: 15.000 Euro. Mit den Tantiemen für die Stücke, den Gebühren für die Nutzung des Platzes und den laufenden Kosten für die Unterhaltung des Theaters kommen so schnell Beträge zustande, die über den Eintrittspreis in Höhe von 10 Euro nur dann wieder eingespielt werden können, wenn das Haus voll ist.

In den Stücken kommen Hand- und Stabpuppen zum Einsatz, ist von Manda Richter zu erfahren, manchmal auch  Marionetten. Die Handpuppen werden mit den Fingern zur Bewegung gebracht, wodurch bei beidhändigem Einsatz beider Puppenspieler vier Figuren gleichzeitig auftreten können. Doch eine noch realistischere Wiedergabe der Körperbewegung ist durch die Stabpuppen möglich, denn sie verfügen wie der Mensch über Gelenke, die über Fäden mit der Spielhand verbunden sind. Über Bautenzüge und sogar mithilfe von Magneten sind daher Kopf, Schulter, Arme und Hände, aber auch die Knie und Oberschenkel einzeln aktivierbar, was alles dann vonnöten ist, wenn etwa Pippi Langstrumpf ihr Zauberpferd besteigt.

Doch soll der Zuschauer ganz und gar von der Zauberei verschlungen werden, sind weitere Anstrengungen erforderlich. So müssen die Zauberer gleichzeitig mit dem Puppenspiel auch noch mit Händen und Füßen die Ton- und Lichttechnik steuern. Da ist bei aller Begeisterung für das Puppenspiel auch ein hohes Maß an Konzentration und Fingerfertigkeit unabdingbar, und natürlich auch die Freude der Akteure am Zusammenwirken, das wie von selbst funktionieren muss. Da ist es gut, wenn man als Ehepaar gelernt hat aufeinander zuzugehen. Und dennoch freuen sich die beiden Komödianten sehr, wenn wie jetzt zur Aufführungszeit gerade Schulferien sind und die drei Kinder mitreisen können. Denn neben der Familienfreude bringt es auch den gern gesehenen Zugewinn, dass der Älteste schon mal eine Zureichung in der Kulisse besorgen kann.

Der beträchtliche Aufwand eines reisenden Theaters erfordert natürlich auch handwerkliches Geschick und praktisches Denken, ja Erfindungsgeist. So ruht das ausklappbare Zelt auf einem Gestell, das durch Verstrebungen gesichert wird und daher nicht im Boden verankert werden muss, was sonst ein Gastspiel auf dem gepflasterten Breslauer Platz unmöglich machen würde. Auch ist es natürlich lästig, nach jeder Vorstellung wieder alles abbauen zu müssen, um es am nächsten oder übernächsten Tag am selben Standort wieder aufzubauen. Doch können die Komödianten den Platz nur an den marktfreien Tagen nutzen, weswegen die Mobilität sogar Voraussetzung für ihr Gastspiel ist. Daher sind sie zur Perfektion gewissermaßen gezwungen. Der Abbau dauert folglich nur 60 Minuten, der Aufbau zwei Stunden.

Zu Ostern wollen die Puppenspieler auf ihrer neuen Rundreise auch unseren Bezirk wieder besuchen, mit neuen Stücken und neuen Figuren. Unsere Kulturstadträtin hat, wie in unserer letzten Ausgabe berichtet, in der Oktober-Sitzung der BVV ihr tiefes Bedauern über den Verlust der Spielstätte von Hans Wurst Nachfahren am Winterfeldtplatz für das Puppenspiel zum Ausdruck gebracht, wo übrigens auch das Rheinische Figurentheater bereits zu Gast war. Mit der Übernahme der Schirmherrschaft über die bevorstehende Reise des Puppenspiels durch unseren Bezirk könnte sie nun sogar etwas tun für das Überleben des Figurentheaters bei uns. Wir jedenfalls wollen das Unsrige dazu beitragen, indem wir unseren Lesern die Ankunft der fahrenden Leut im nächsten Jahr rechtzeitig bekannt machen.

Ottmar Fischer

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