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04.03.2023 / Menschen in Schöneberg

Ein umstürzlerisches Wahlergebnis

Von Ottmar Fischer. In der „Berliner Zeitung“ hat eine langjährige Wahlhelferin berichtet, dass diesmal alles glatt gegangen sei, weil im Zuge der guten Vorbereitung übervorsichtshalber nicht nur mehr als genug Wahlhelfer zur Verfügung standen, sondern sogar viel zu viele Wahlurnen, weswegen etliche ständig ungenutzt blieben.

So habe sie eher schmunzelnd zur Kenntnis genommen, dass eine ältere Wählerin fast eine halbe Stunde hinter dem Sichtschutz ausharrte, um erst nach einer offenbar gründlichen Prüfung des Angebots ihre Entscheidung der Wahlurne zu übergeben. Und bis auf die 466 Briefwahlstimmen, die in der Poststelle des Lichtenberger Bezirksamts wegen pünktlichen Feierabends liegen blieben und in der Nachzählung keine relevanten Ergebnisverschiebungen zur Folge hatten, sind diesmal auch keine Pannen bekannt geworden. Doch halt, im Schöneberger Wahlkreis 2 wurden kurzzeitig insgesamt 115 Wahlzettel mit Direktkandidaten eines anderen Wahlkreises ausgegeben, was aber ebenfalls keine mandatsrelevanten Auswirkungen hatte.
Gravierend hat sich  diesmal aber der Wählerwille Gehör verschafft. Die am Wahlabend in ihren diversen Fernsehauftritten sich enttäuscht und demütig gebende Regtierende Bürgermeisterin Giffey (SPD) hat zwar vor allen Mikrofonen ständig wiederholt, dass sich als Folge dieses für ihre Partei desaströsen Wahlergebnisses etwas ändern müsse in Berlin und in der Regierungsarbeit, ganz gleich wie die zukünftige Koalition zusammengesetzt sei.

Doch ob sie ein Angebot des eindeutigen Wahlsiegers Kai Wegner (CDU) zu einem Regierungsbündnis unter Verzicht auf ihren Führungsanspruch annehmen würde oder trotz des Debakels lieber die bestehende Koalition aus den drei Wahlverlierern unter ihrer Regie fortsetzen würde, wollte sie vor den Kameras nicht weiter erörtern.

„Berlin ärgert sich schwarz“, hat die taz das Wahlergebnis treffend charakterisiert. Und in der Tat zeigt sich beim Blick auf die nach den Parteifarben gekennzeichneten Wahlkreisgewinner stadtweit ein einheitliches  Bild: Außen schwarz und Innen grün. Rot kommt dagegen fast gar nicht mehr vor, denn von insgesamt 78 Wahlkreisen konnten von der SPD nur noch vier gewonnen werden. Darunter von Orkan Özdemir der Wahlkreis Friedenau. Der für seine volksnahe Einsatzfreude bekannte Sozialdemokrat konnte dabei sogar 10 Prozent mehr Stimmen auf seine Person vereinen als seine Partei bei den Zweitstimmen. Wie konnte es zu einem solchen Desaster für die SPD kommen, dass nun Stimmen wie die des ehemaligen Bausenators Wolfgang Nagel laut werden, seine Partei sollte keine Angst vor der Oppositionsrolle haben?

Die neue Protestpartei

Nach einer Dimap-Umfrage einen Tag nach der Wahl haben drei von vier Wählern ihre Wahlentscheidung aus Enttäuschung über andere Parteien getroffen, und ebenso handelten auch drei von vier neuen Wählern der CDU. Offenbar haben die Wähler die Lust am Dauerstreit der drei Regierungsparteien um die Lösung der Hauptprobleme der Stadt verloren. Und die CDU konnte für ihre Positionen zu den drei in Umfragen als vordringlich eingestuften Problemen in der letzten Zeit deutlich an Zustimmung gewinnen: Bei der inneren Sicherheit gab ihr ihre deutliche Positionierung nach dem Bölleraufstand in der Neuköllner Sivesternacht Auftrieb, In der Wohnungsfrage hat sich die anfängliche Begeisterung der Bevölkerung für die Verstaatlichung großer Wohnungsunternehmen zur Sicherstellung sozialverträglicher Mieten nach einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen inzwischen in eine Zweidrittelmehrheit dagegen verwandelt, wodurch der Lösungsvorschlag der CDU zu mehr Bauen an Zustimmung gewann. Und in der Verkehrspolitik sieht laut einer Umfrage von Infratest die Mehrheit der Bevölkerung ebenfalls bei der  CDU die größere Kompetenz.

Verkehrspolitisch wurde demnach die Daseinsberechtigung des Autos gegen die Anführerin einer Koalition in Geltung gebracht, deren grüne Senatorin Jarasch die autofreie Zone in der Friedrichstraße zu verantworten hat, welche  in jenem Wahlkreis liegt, der bestimmt nicht ohne Grund als einziger inmitten einer ansonsten grün dominierten Innenstadt von der CDU gewonnen wurde. Der „Tagesspiegel“ hat in Rudow, am Endpunkt der längsten U-Bahn-Linie der Stadt, Volkes Stimme in einem Lotto-Geschäft direkt gegenüber dem Bahnhof aufgespürt: „Viele hier nehmen den Sozialdemokraten übel, dass sie 2021 erneut mit Grün und Links eine Koalition gebildet haben“, weiß die Inhaberin zu berichten und meint zur Verkehrspolitik:“Wir sind hier draußen auf das Auto angewiesen.“ Und ein anwesender Kunde ergänzt: „Ja, das war Betrug am Wähler.“ Auch eine zornige Rentnerin stimmt zu: „Die Menschen haben die Faxen dicke“.

Diesen Volkszorn bekam die Re-gierende Franziska Giffey ganz direkt in ihrem eigenen Wahlkreis bestätigt, der die südliche Gropiusstadt und eben Rudow umfasst. Hatte sie diesen Wahlkreis 2021 noch mit 40,8 Prozent gegen den gebürtigen Rudower KfZ-Meister Olaf Schenk gewonnen, konnte dieser ihn nun für die CDU mit  satten 45,3 Prozent und einem Vorsprung von 15,7 Prozent der Regierenden abnehmen. Auch am anderen Ende der U-Bahn-Linie in Spandau hat die Wahlentscheidung wohl etwas mit dem Auto zu tun. Denn dort verlor nicht nur der Co-Vorsitzende der SPD Raed Saleh seinen Wahlkreis, in dem  Bettina Jarasch als Spitzenkandidatin der Grünen noch hinter der AfD auf Platz 4 landete, sondern gleich der ganze Bezirk wechselte zur CDU.

Konflikt im Bezirk

Wie in vielen anderen Bezirken haben auch in Tempelhof-Schöneberg die gleichzeitig erfolgten Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung einen nur schwer zu lösenden Konflikt heraufbeschworen. Denn auch hier hat die CDU mit großem Vorsprung gewonnen und damit die bestehende Sitzemehrheit von Grünen und SPD gebrochen, was besonders auf ihre Erfolge in den Wahlkreisen des Altbezirks Tempelhof zurückzuführen ist, wo etwa Christian Zander in Lichtenrade mit 49,9 Prozent fast die absolute Mehrheit erreichte. Das hat zur Folge, dass Matthias Steuckardt als eindeutiger Wahlgewinner nun auch als Bürgermeister einem Bezirksamt vorstehen will, von dem nunmehr drei von den sechs Posten seiner CDU zustehen, wohingegen die jetzige Führungsriege sich aus je zwei Stadträten von Grünen, SPD und CDU zusammensetzt, und der Bürgermeister mit Jörn Oltmann von den Grünen kommt. Und damit gibt es ein Problem. Denn da die jetzigen Bezirksamtsmitglieder bei der regulären Wahl 2021 zu Beamten für die gesamte Wahlperiode ernannt wurden, können sie nun nicht infolge der Ergebnisse einer Wiederholung ersetzt werden. Das ginge nur mit einer Zweidrittelmehrheit, die aber nicht zu erwarten ist.

Die Faktenlage ist eindeutig: Im Bezirk hat die SPD mit einem Minus von 3,7% mehr als im Landesdurchschnitt verloren und die CDU liegt mit 30,8% über dem Landesergebnis, wohingegen die Grünen entgegen dem Landestrend ein bescheidenes Plus von 0,1% einfahren konnten. Linke und AfD behalten ihre Sitze, die FDP hat sich halbiert. Die CDU ist mit 19 Sitzen nun stärkste Kraft, Die Grünen mit ihren 14 Sitzen haben zusammen mit den nur noch 12 Sitzen der SPD  keine Mehrheit mehr. Was ist also zu tun? Um diese Situation, dass Wahlen wegen beamtenrechtlicher Hindernisse keine politischen Folgen haben können, einvernehmlich zu beenden, hat Chefredakteur Lorenz Marold im Tagesspiegel-Checkpoint geraten, dass am besten jemand aus den jeweils betroffenen Parteien ihren Bezirksamtsmitgliedern sagen sollte, „dass ihre Amtszeit aus demokratiehygienischen Gründen bereits abgelaufen ist.“

Da also die Bezirksamtsmitglieder nur mit einer Zweidrittelmehrheit abgewählt werden können, kann die Absurdität einer folgenlosen Wahl nur dadurch aufgehoben werden, indem das Landesparlament gesetzgeberisch tätig wird, meint  die Berliner Morgenpost und berichtet, dass es dazu nicht nur einen überparteilichen Konsens gebe, sondern dass die CDU auch bereits einen entsprechenden Antrag eingebracht habe. Danach sollen Bürgermeister und Stadträte für ihren Verzicht bis zum Ende ihrer Amtszeit 71,5% ihrer Bezüge bekommen und ihre Pensionsansprüche würden sie ebenfalls behalten, wenn auch reduziert. In dem Artikel heißt es:weiter: „Vertreter aller beteiligten Fraktionen bestätigten der Morgenpost entsprechende Überlegungen. Offen reden wollte noch niemand über den heiklen Vorgang, der eine womöglich zweistellige Zahl von Spaziergängern schaffen würde. Angestrebt wird, das neue Gesetz am 16. März bei der ersten Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses zu beschließen.“

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