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01.05.2023 / Menschen in Schöneberg

Der geteilte Mantel als Musik

Von Ottmar Fischer. In den alten Zeiten war den Menschen stets bewusst, dass die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind und dass es eine Kluft gibt zur Vollkommenheit.
Friedenauer Kantorei, Sommerkonzert in der Kirche Zum Guten Hirten, 9.7.2017. Foto: Zum Guten Hirten

Von daher rührt auch die Bedeutung, die wir bis heute der Musik zumessen, denn ihr trauen wir zu, uns von jenen Vollkommenheiten zu künden, die uns verschlossen sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass schon im christlichen Mittelalter die Musik dazu genutzt wurde, um in geheiligten Räumen das Heilsgeschehen erfahrbar zu machen. Musik in der weltabgewandten Kapelle sollte schon immer der geschundenen Seele dabei helfen, die Hoffnung auf ein Ende der irdischen Leiden in der Schau der ewigen Unberührbarkeit zu erlangen oder wieder zu finden.

Der Name „Kapelle“ für diesen Ort der Begegnung mit dem Überirdischen stammt von dem lateinischen Wort cappa für Mantel und meinte ursprünglich im Gebrauch der fränkischen Könige des 7. Jahrhunderts die Mantelhälfte des geheiligten Martin von Tours, zu dessen Andenken noch heute am Martinstag die Laternenumzüge der Kinder stattfinden, bevor die Bezeichnung auf die Aufbewahrungsstätte in der königlichen Kapelle ausgedehnt wurde und auf den dort praktizierten Lobgesang. Damals wurde durch die getauften Herrscher ein von kirchlich Beauftragten durchzuführender Chordienst neben den Stundengebeten eingeführt, um die eigene Verehrung für die Reliquie und auch für den Heiligen selbst als christliche Reichsdoktrin sichtbar zu machen und reichsweit durchzusetzen. Noch vor den späteren Reichsteilungen wurde daher bereits im Althochdeutschen das Wort cappella auch hierzulande heimisch und bezeichnet seither den geheiligten Ort der Begegnung mit dem Ewigen.

Mit den Veränderungen im Kirchenbau wuchsen freilich auch die Anforderungen an den Chorgesang über die Darstellung der christlichen Symbolik der Mantelteilung hinaus. Im Verlauf des 16. Jahr-hunderts entwickelte sich die mu-sikalische Symbolisierung schließlich zu einem ganz neuartigen  A cappella-Stil, der mit Palestrinas Chormusik für die Sixtinische Kapelle des Papstes seinen Höhe-punkt erreichte. Das italienische alla cappella bedeutete nun erstmals eine mehrstimmige Vokal-musik „nach Art der Kapelle“, wo-runter verstanden wurde, dass bei ihr entweder die Instrumente den gleichen Ton spielen wie die Sän-ger ihn singen, oder die Vokal-stimmen unbegleitet erklingen, was am Beginn der Entwicklung stand. Wenn unsere heutige Be-zeichnung „Musikkapelle“ an ganz andere Formationen für ganz andere Arten von Musik denken lässt als an kirchlichen Chorgesang, so spiegelt das die gesellschaftlichen, geistigen und kompositorischen Entwicklungen der letzten 500 Jahre wider. Gleichwohl hat geistliche Musik nach wie vor ihren festen Platz in der abendländischen Kultur.

Nach Art der Kapelle
Auch der A cappella-Klang wird unverändert hoch geschätzt. Auf besondere Art nun in Friedenau. Dort feiert die Friedenauer Kantorei am 30. April ihr fünfzigjähriges Bestehen mit einem A cappella-Konzert der Extraklasse. Dann sollen aus den vielen früheren Konzerten wieder Stücke erklingen, die im Gedächtnis geblieben sind und die von der Vielfalt des Chores zeugen können. Wie Svenja Andersohn als jetzige Leiterin der Kantorei in Vorfreude der Stadtteilzeitung mitteilt, reisen zu diesem Ereignis aus ganz Deutschland nicht nur viele Ehemalige an, sondern auch sämtliche früheren Chorleiter haben ihr Erscheinen angesagt, deren Namen den Musikfreunden weit über Friedenau hinaus noch heute wie Musik in den Ohren klingen: Jörg-Peter Schulz, Maria Jürgensen, Gerhard Löffler. Erklingen wird u.a. die doppelchörige Bach-Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“, die reich an Koloraturen und Kontrapunkt ist, und auch Rheinbergers berühmtes und zu Herzen gehendes, ganz romantisches „Abendlied“.

Kantorin Andersohn leitet den aus 80 Personen bestehenden Chor seit nunmehr sechs Jahren und weiß aus seiner Geschichte viel zu erzählen. Angefangen habe alles mit der Fusionierung der Chöre der beiden Gemeinden Philippus  und Zum Guten Hirten: „Aus zwei eher kleinen, beschaulichen Chören wuchs eine große, singkräftige Friedenauer Kantorei – eine wahre Erfolgsgeschichte!“ Und es ist nicht übertrieben, wenn sie anfügt: „Die oratorischen Konzerte locken Zuhörende aus ganz Berlin an.“ Zur Freude der Kantorin sind die Gründer bis auf den heutigen Tag dem Chor eng verbunden. Die eine heißt Hille Schulz und ist als aktive Sängerin noch heute dabei. Der andere heißt Jörg-Peter Schulz und war erster Chorleiter. In einem Festartikel zum seinerzeit 25-jährigen Jubiläum hat der Sänger Joachim Drössler die Ehe der beiden Gründer anschaulich mit der Entstehungsgeschichte des Chores in Übereinstimmung gebracht:
„Im Jahre 1969 übernahm Jörg-Peter Schulz das Kirchenmusikeramt am Friedrich Wilhelm-Platz, drei Jahre später folgte seine Ehefrau Hille als Kantorin in der Stierstraße. Hiermit waren die Weichen für eine fruchtbare, übergemeindliche Zusammenarbeit gelegt. Ein Wunschtraum des Kantorenehepaars nach einer realisierbaren, breiten Basis für ihre Arbeit war in Erfüllung gegangen. Schon bald nach der Arbeitsaufnahme von Hille Schulz in der Philippusgemeinde erschien auch Jörg-Peter Schulz hier und übernahm die Einzelproben mit den Männerstimmen. Es machte Spaß mit ihm zu üben. Gern folgten einzelne Sänger seiner Bitte, unterstützend im „Guten Hirten“ mitzusingen. Schon am Bußtag im November 1972 traten dann beide Kirchenchöre gemeinsam in einem Konzert mit der g-moll Messe und der Kantate 33 „Allein zu Dir Herr Jesu Christ“ von J. S. Bach auf. Erstmalig wurde in der Einladung zu diesem Konzert die zusammenfassende Bezeichnung „Friedenauer Kantorei“ verwendet. Ab 1973 wurden die Chorproben zusammengelegt und im monatlichen Wechsel an den beiden Standorten durchgeführt. Für alle Beteiligten war das Musizieren in zahlenmäßig größerer Runde ein Erlebnis, eröffnete es doch die Möglichkeit, sich an die gewichtigeren Werke der Kirchenmusik heranzuwagen. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Aufführung des Weihnachtsoratoriums I-III von J. S. Bach. In der Adventszeit des Jahres 1973.“

Die Kantorei blüht vielfältig
Seither ist die Qualität der Musizierpraxis dieses Chores in zahlreichen Konzerten mit verschiedenen Orchestern und Solisten auch weit über Friedenau hinaus bekannt geworden. Und über die Jahre hat sich unter den Singenden auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt. Es sind nicht nur enge Freundschaften entstanden, sondern sogar Ehen. Der Chor probt in der Regel donnerstags zwischen 19:45 Uhr und 21.45 Uhr im Gemeindehaus Bundesallee 76a. Interessierte sind stets willkommen, mögen sich aber bitte ansagen. Es gibt zudem einen „Freundeskreis der Friedenauer Kantorei“, der für die Finanzierung der Orchester und Solisten sorgt. Auch hier sind neue Mitglieder oder Einzelspender stets willkommen (Ansprechpartnerin: Annette Schulte-Döinghaus, Tel.: 854 87 135, E-Mail: annetteschultedoeinghaus@t-online.de). Und es gibt weitere musikalische Aktivitäten: Neben der Mitwirkung an Gottesdiensten pflegt die Kantorei einen Singkreis für Senioren und einen für Kinder, es gibt einen Posaunenchor mit Auftritten innerhalb und außerhalb der Kirche, mittwochs gibt es wieder regelmäßig eine Orgelvesper und als „Musiksalon Friedenau“ finden laufend kammermusikalische Darbietungen im Gemeindehaus statt.

Wer noch vor dem Jubiläumskonzert eine Kostprobe vom musikalischen Können der Kantorei möchte, hat dazu am Karfreitag Gelegenheit. Dann kommt im Guten Hirten die selten aufgeführte Markus-Passion zu Gehör. Kantorin Andersohn stellt die Rekonstruktion der letzten Fassung von 1747 vor, in der Bach sich zum dritten Mal mit einer Vorlage des von ihm offenbar geschätzten Komponisten Keiser auseinandersetzte. In der Vorankündigung heißt es da-zu: „Neben originalen Chören und Rezitativen von Keiser enthält sie etliche Arien aus der Brockes-Passion des von Bach sehr geschätzten Kollegen Georg Friedrich Händel. Eine Begegnung, die zu Bachs Bedauern nie persönlich stattfinden konnte, kann es auf diese Weise doch, zumindest musikalisch.“

Markus-Passion: 7. April, 18 Uhr
Jubiläumskonzert a cappella: 30. April 18 Uhr

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