Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

Kapitel 3

Organisation, Staat und freie Wohlfahrt

Einführung von Birgit Monteiro

Im Kapitel „Staat, Organisation und freie Wohlfahrt“ liegen Texte Georg Zinners aus den Jahren 1990-2011 vor. Er setzt sich in ihnen durchaus kritisch mit der Arbeit und Organisationsstruktur von sozialen Organisationen auseinander.

Seine Hauptkritikpunkte am Anfang der 90er Jahre sind hierbei:

  • Defizite in der Öffentlichkeitsarbeit, die dazu führen, dass Zuwendungsgeber und Presse misstrauisch sind
  • Undurchschaubarkeit von Gremien und Strukturen
  • Leistungserbringung unter Wert, um Marktanteile zu erkämpfen
  •  eigener Anspruch und praktisches Handeln stimmen nicht immer überein
  •  ungesicherte, bisweilen sogar ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse
  •  Einsatz von ehrenamtlicher Mitarbeit nicht zur qualitativen Verbesserung der Dienstleistung, sondern zu deren Verbilligung
  • Dämonisierung von Arbeitsteilung, Zuständigkeitsregelungen und hierarchischen Strukturen.

Noch kritischer und weniger lernfähig bewertet Zinner jedoch Staat und öffentliche Hand. Er kritisiert scharf die Regelungswut von Politik und Verwaltung und bescheinigt beiden eine beängstigende Unfähigkeit. Während die Mechanismen der Öffentlichen Verwaltung Eigeninitiative unterbänden, teuer, ineffektiv, bürgerfern, inhaltlich und methodisch nicht mehr zeitgemäß seien sowie sich von der Nachbarschaft abgrenzten, stelle sich der gemeinnützige Sektor vergleichsweise flexibel den Anforderungen einer komplexer werdenden Gesellschaft, könne besser bürgerschaftliches und nachbarschaftliches Engagement einbinden und Teilhabe befördern.

Entstaatlichung stellte für Georg Zinner deshalb einen Glücksfall dar, setzte er doch auf bürgerschaftliches Engagement als den Kern freier Wohlfahrtspflege. Es genüge, wenn der Staat soziale Leistungen und Infrastruktur garantiere, er müsse nicht selbst Unternehmer sein. Er forderte eine gute Ausstattung der Regelstrukturen, wie Kindertagesstätten, Schulen, Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen sowie von Nachbarschafts- und Familientreffpunkten bei gleichzeitigem Zurückschrauben von individuellen Hilfeformen.

Seine Kritik an Fehlentwicklungen in gemeinnützigen Organisationen und seine Polemik gegen obrigkeitsstaatliches Denken und Handeln von Politik und Verwaltung – vor allem auf der Ebene des Landes Berlin - machten Georg Zinner hier wie da zu einem unbequemen Mahner. Der Kampf gegen eine kleinteilige, kurzfristige und verbürokratisierte Förderpolitik in der sozialen Arbeit kostete ihn unendlich viel Kraft und Nerven. Er empfand sie am Ende seines Berufslebens als eine Misstrauenserklärung an sich und seine Mitstreiter, fand Bürgerengagement nicht honoriert, sondern konterkariert.

Positive Entwicklungen bescheinigte er den Bezirken, auf der Berliner Landesebene beschrieb er hingegen vor allem Interesselosigkeit und gewaltige Zerstörungskräfte, ja er sprach sogar von kafkaesken Zuständen. Georg konnte es nicht fassen, dass sich unter den Stichwörtern Qualitätsmanagement und Evaluation eine ganze Gesellschaft von der Papierform täuschen lasse. Gern diskutierte ich mit ihm heute, welche Schlüsse aus der zunehmenden Erschwerung sozialer Arbeit zu ziehen seien, in einer Zeit, in der der Staat tendenziell nur noch Gewährleister und nicht mehr Dienstleister ist und vor allem verwaltungs-bürokratisch und kaum noch fachlich Einfluss nimmt.

Birgit Monteiro war von 2010 bis 2015 Geschäftsführerin des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit.