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01.07.2021 / Orte und Plätze

Streit um die Fahrradstraße

Von Ottmar Fischer. Im Bezirk Tempelhof-Schöneberg sollte auf Initiative der Grünen die Handjerystraße zu einer Fahrradstraße werden.
Fotos: Elfie Hartmann

Im Koalitionsvertrag der nur noch wenige Monate amtierenden Regierungsfraktionen nimmt die sogenannte Verkehrswende einen bedeutenden Platz ein. Ziel ist die stärkere Berücksichtigung der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer bei der Gestaltung des öffentlichen Raums. Nur wenig ist daraus geworden und schon das Wenige war begleitet von heftigem Widerstand. So konnte zwar eine sogenannte Begegnungszone in der Maaßenstraße geschaffen werden, die zweifellos die gewünschte Verkehrsberuhigung zur Folge hatte und gleichzeitig auch die Aufenthaltsqualität spürbar verbessern konnte, nachdem im Zuge der Bürgerbeteiligung die anfänglich aufgestellten Tierplastiken wieder entfernt und durch mehr Sitzgelegenheiten ersetzt wurden und auch mehr Grün beschlossen wurde. Doch bleibt manches immer noch gewöhnungsbedürftig, vor allem die Erschwernisse beim Liefern und Parken.

Die Förderung des Fahrradverkehrs ist ein weiteres wichtiges Thema bei der ausgerufenen Verkehrswende. Im Bezirk Tempelhof-Schöneberg sollte auf Initiative der Grünen die Handjerystraße zu einer Fahrradstraße werden, in der die Fahrradfahrenden Vorrang haben und für Autofahrer nur noch Anliegerverkehr erlaubt ist. Doch das Bauvorhaben Friedenauer Höhe machte vorerst der Vollendung dieses Anliegens einen Strich durch die Rechnung. Aber da der Bauabschnitt an der Handjerystraße kurz vor der Vollendung steht, nimmt nun auch die Unruhe unter den politischen Fahrradfreunden wieder zu. Allerdings wächst zeitgleich auch die Unruhe unter den anwohnenden Autobesitzern, denn es hat inzwischen eine Veränderung bei den gesetzlichen Vorgaben für die Einrichtung von Fahrradstraßen gegeben.

Danach ist nun eine Fahrgassenbreite von 5,50m vorzusehen, die sich errechnet aus 2x1m Fahrspur pro Richtung, damit zwei Radfahrende nebeneinander fahren können,  plus 0,75m Sicherheitsabstand zum parkenden Verkehr auf jeder Seite. Da nun die Fahrbahnbreite in der Handjerystraße eine solche Fahrgassenbreite nicht hergibt, kommt entweder eine bauliche Veränderung in Betracht, also eine Bürgersteigbeschneidung, was wegen der Straßenbäume aber tabu ist, oder ein Parkverbot für eine der Straßenseiten, wobei dann 51 Stellplätze entfallen würden. Der Leitfaden der Senatsverwaltung für die Einrichtung von Fahrradstraßen sieht vor, dass überall dort in der Verantwortung der Bezirke Fahrradstraßen eingerichtet werden können, wo bereits jetzt das Fahrrad das vorherrschende Verkehrsmittel ist oder dies nach Einrichtung der Fahrradstraße zu erwarten ist, und wo durch die Maßnahme ein Anschluss an bereits bestehende oder geplante Radwegeverbindungen ermöglicht wird. Das ist in diesem Fall durch die bereits bestehende Fahrradstraße in der anschließenden Prinzregentenstraße gegeben. Allerdings heißt es in dem Leitfaden auch: „Wird die Anordnung einer Fahrradstraße ohne eine bauliche Veränderung des Straßenquerschnitts umgesetzt, so ist eine Mindestfahrgassenbreite von 5,50 Metern nicht zwingend erforderlich.“

Wie in unserem ordnungsverliebten Land nicht anders zu erwarten, gibt es in dem Leitfaden zahlreiche Sonderregelungen, so dass ausreichend Raum für politische Auseinandersetzungen bleibt. In der Mai-Sitzung der BVV nutzte die FDP diesen Spielraum allerdings in sehr eigenwilliger Weise, indem sie in einem Antrag die sofortige Umsetzung des auf Initiative der Grünen im Jahre 2015 zustande gekommenen BVV-Beschlusses forderte. Doch hatte die sich gern als Rechtsstaatspartei verstehende FDP dabei die rechtlich unhaltbare Formulierung „gemäß der damaligen Rechtslage“ gewählt. Wie ihr Fraktionschef Frede in der Debatte dazu ausführte, war damit gemeint, dass zur Durchführung  neben der Kennzeichnung als Fahrradstraße lediglich das Hinweisschild für Autofahrer „Anlieger frei“ aufzustellen sei. Doch eine solche Einladung zur Nichtbeachtung der inzwischen geänderten Vorschriften fand verständlicherweise bei den anderen Fraktionen keinen Zuspruch.

Während von allen Seiten des auch zu dieser Sitzung wieder nur virtuell versammelten Parlaments auf die geänderte Rechtslage hingewiesen wurde, die selbstverständlich bei allen Überlegungen zu berücksichtigen und der Antrag deswegen zu verwerfen sei, ging Annabelle Wolfsturm (Grüne) auch auf den inhaltlichen Konflikt um die möglicherweise entfallenden Parkplätze ein. Eine „fahrradgerechte Stadt“ sei nun mal nur möglich, wenn es zu einer Neuaufteilung des öffentlichen Raumes komme, und das gehe in der Handjerystraße eben nur durch den Wegfall der 51 Parkplätze. Veränderungen, ohne jemandem wehtun zu wollen, könne es nun mal nicht geben. Doch das zu entscheiden bleibt weiteren Debatten vorbehalten. In Friedenau könnte daraus sogar ein Wahlkampfthema werden.

Schade nur, dass eine gute Chance zur Verlagerung des Parkverkehrs von der Handjerystraße in die Tiefgarage des gerade entstehenden Wohnkomplexes Friedenauer Höhe vertan wurde. Im Zuge der Bürgerbeteiligung hatten Anwohner vorgeschlagen, die unterirdische Anlage auf dem Gelände nicht nur für die zukünftigen Mieter vorzusehen, sondern durch eine vorausschauende Größenordnung auch für die Friedenauer Nachbarschaft bereitzustellen, die bekanntlich unter chronischem Parkplatzmangel leidet. Doch dieser vernünftige Vorschlag fand weder bei den Investoren, noch beim Bezirksamt, und auch nicht bei den Parteien Beachtung. So wurde eine gute Möglichkeit verpasst, bei einer städtebaulichen Maßnahme auch die Belange jener Autofahrer zu berücksichtigen, die etwa als Berufspendler auf ihr Auto angewiesen sind. Denn nicht jeder Arbeitsplatz ist mit dem Fahrrad bequem zu erreichen, und so mancher auch nicht zu nachtschlafender Zeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wer für das Gemeinwohl tätig sein will, darf nicht nur eigene Vorlieben bedienen. Das gilt auch für die Einrichtung von Fahrradstraßen.

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