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03.07.2019 / Menschen in Schöneberg

Moral und Sinnlichkeit

Aus dem Archiv vor 100 Jahren
Kinoplakat

Nach dem Ersten Weltkrieg begann ein Werteverfall. Moralische Schranken wurden beiseite geschoben und durch eine Alles-ist-erlaubt-Haltung ersetzt. Die heimkehrenden Soldaten und ein Großteil der Bevölkerung hatten Jahre des Schreckens und der Entbehrungen erlebt, und viele wollten nur noch genießen, was das Leben zu bieten hatte. Im ganzen Land schossen neue Lichtspielhäuser, Revuetheater, Galerien, Zeitungen und Bücher mit oftmals amourösen, voyeuristischen Programminhalten aus dem Boden. Hinzu kam, dass es nach dem ersten Weltkrieg bis 1920 keine Filmzensur mehr gab. Das war der Boden, auf dem die  so genannten „Sitten-“ und „Aufklärungsfilme“ entstehen konnten. Titel wie „Moral und Sinnlichkeit“, „Hyänen der Lust“, „Venus im Pelz“ fanden begeisterten Zulauf und füllten die Kassen. Am 6. Juni 1919 kam der Aufklärungsfilm „Moral und Sinnlichkeit“ in die Berliner und Friedenauer Kinos. In den Juli-Ausgaben des Friedenauer Lokalanzeigers war er das beherrschende Thema.

Zuschrift vom 7.7. 1919 von Dr. med. Sch.
Diesen Film sah ich mir am Sonnabend im Rheinschloß an. Er schildert mit plastischer Deutlichkeit die sexuellen Vorgänge und ihre Wirkungen, zuweilen bis an die äußerste Grenze des Möglichen. Natürlich tritt darin der Hauptdarsteller, der bekannte „Sexualpathologe“ und ausgekochte Wüstling, Dr. Weise, in seinem nur aus Päderasten und Urningen (1) (siehe Krafft – Ebing, Psychopathia sexualis) bestehenden „Klub der Freunde“ für die Abschaffung des sattsam bekannten  §175 Str. G. B. ein. Als Arzt bin ich wirklich nicht prüde, allein ich muss bekennen, alles in allem ein starker Tabak, so stark, dass ein Herr während der Vorstellung laut in den Saal hineinrief: „Es ist ein Skandal, dass sich das Publikum solche Schweinereien gefallen lässt“, worauf ein paar unmittelbar hinter mir sitzende, na sagen wir mal Weiber, zynisch bemerkten: „Dann mag er ja rausgehen, wenn’s ihm nicht passt, wir finden gar nichts dabei.“ Das zart besaitete schwache Geschlecht zeigte sich also in diesem Fall wieder mal “starknerviger“ bzw. über eine unempfindlichere Epidermis verfügend als das so genannte starke Geschlecht. Das Tollste dabei scheint mir nun die Tatsache, dass dieser verfilmten Pornographie viele Mädchen und Knaben aus den höheren Schulen, meist im Alter von 13 – 14 Jahren und teilweise sogar in Begleitung ihrer Eltern, ganz ungeniert beiwohnten. Hätte da nicht die Polizei die verdammte Pflicht, sich vor Aufführung solcher „Aufklärungsfilme“  zu informieren und Jugendlichen unter 16 Jahren ihren Besuch zu untersagen? Erwachsene mögen das mit sich selbst abmachen. Selbstverständlich stellen, wie man fast stets beobachten kann, die Frauen die meisten Besucher derartiger Filme. „Das lässt tief blicken“, würde der selige Sabor (2) sagen.        

1) Homosexuelle
2) Diese Redensart äußerte der sozialdemokratische Abgeordneten Adolf Sabor 1884 im Deutschen Reichstag bei einer Kontroverse um die Änderung des Wahlrechts, womit er allgemeine Heiterkeit auslöste.

Zuschrift vom 12.7. 1919 von L.Z.
…. Ist es nicht tief bedauerlich, dass gerade die so genannten Aufklärungsfilme soviel Zuspruch haben. Durch die Zuschrift der Frau Else K (Zuschrift vom 9.7. 1919) sieht man, wie auf diese Weise ein junges Mädchen, das schon nicht ganz charakterfest ist, noch leichter der Verführung unterliegt ... Es ist die Höhe und ein Skandal, die Scham- und Zornesröte steigt einem ins Gesicht, wenn man vor solcher Lein-wand sitzt. Ich sage: Weg mit den Aufklärungsfilmen! und die gesamte Öffentlichkeit müsste für die Wiedereinführung der Film- und Theaterzensur eintreten….

Zuschrift am 16.7.1919 vom Vorstand des Bürgerrats von Friedenau
... Denjenigen Lichtspieltheatern, die für die laufende Woche, allen öffentlichen Protesten zum Trotz, wieder lüsterne Filme angekündigt haben, ist am 12. Juli vom Vorsitzenden des Bürgerrats ein Schreiben zugegangen, worin mit starken Worten Verwahrung eingelegt wurde „gegen allzu rohe Attentate auf Sitte und guten Geschmack.“ Leider ist ja die Filmzensur seit dem 9. November abgeschafft. Da infolgedessen zurzeit niemand sonst darauf achtet, dass nicht durch schamlosen Missbrauch der so genannten „Freiheit“ Gift in die Seelen unserer Kinder und Halbwüchsigen gestreut wird, tritt der Bürgerrat in die Bresche ... Der Bürgerrat bleibt bei der Absicht, die gesamte an-ständig empfindende Bürgerschaft Friedenaus zur Selbsthilfe aufzufordern, und er wird alle anständigen Menschen ersuchen, jedes Kino, das nach dem 18. Juli noch „Aufklärungsfilme“ und sonstige auf sexuelle Instinkte spekulierende Schundvorstellungen aufs Programm zu setzen wagt, fortan zu meiden! ...

Mit dem Lichtspielgesetz vom 12. Mai 1920 wurde die Filmzensur wieder eingeführt. Sie war jedoch so liberal, dass bereits Mitte der Zwanziger Jahre FKK-Filme wie „Wege zu Kraft und Schönheit“ (Regie W. Prager) produziert werden konnten, in denen unter dem Deckmantel ästhetischer Gymnastik, Athletik und Tanz nach dem Vorbild der Antike Nacktheit total gezeigt wurde.
Der Film „Moral und Sinnlichkeit“ gilt heute als verschollen.

Hartmut Ulrich

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