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28.01.2021 / Orte und Plätze

Leerstelle und Lehrstelle am Grazer Platz

Von Ottmar Fischer. In dieser schweren Zeit ist den Anwohnern des Grazer Platzes mit besonderer Deutlichkeit das Fehlen des Weihnachtsbaumes vor der Nathanael-Kirche aufgefallen.
Grazer Platz ohne Weihnachtsbaum. Foto: Thomas Thieme

In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ erinnert Immanuel Kant daran, dass unseren Erkenntnismöglichkeiten unüberwindliche Grenzen gesetzt sind und fordert uns zum Beweis seiner These auf, den Begriff „Anfang“ zu denken. Und tatsächlich, wie sehr wir uns auch damit abmühen mögen, wir gelangen stets erneut zu der Frage, was denn vor dem gedachten Anfang gewesen ist. Seit Menschen denken, wurde daher versucht, das Unbekannte über Symbole ins handhabbare Leben zu holen. Denn in den Gefahren dieser Welt benötigen wir auch dann, wenn wir nicht wissen können, wenigstens die Hoffnung, dass wir in unseren Nöten bestehen können.

Als Symbol dieser Hoffnung stellen wir seit Jahrhunderten deswegen zum Jahreswechsel einen Weihnachtsbaum auf, schmücken ihn mit glitzernden Kugeln und stecken ihm Lichter auf. So auch in diesem Jahr. Und diesmal hat uns ein bislang unbekanntes Virus besonders deutlich vor Augen geführt, wie sehr wir auch in der Gemeinschaft darauf angewiesen sind, die Hoffnung nicht aufzugeben. Immerhin konnten wir inzwischen aus etwas Unbekanntem etwas Bekanntes machen, ein Impfstoff wurde entwickelt, und weil wir das Abstandsgebot zur Verhinderung der Übertragung auch dort eingehalten haben, wo es uns besonders schwer gefallen ist, gehen nun auch wieder die Infektionszahlen zurück.
Doch mussten wir dafür sogar unsere gewohnten Zusammenkünfte zur Feier unserer Hoffnung einschränken. Die Kirchen blieben geschlossen, Krippenspiele fanden nicht statt. Das traditionelle Weihnachtssingen vorm Schöneberger Rathaus wurde ins Internet verlegt, und der gewohnte Engelmarkt auf dem Breslauer Platz wurde abgesagt, wie auch alle Weihnachtsmärkte in der Stadt. Da blieben nur die auf den öffentlichen Plätzen aufgestellten Weihnachtsbäume als stumme Zeugen der trotz allem aufrechterhaltenen Hoffnung übrig. Und gerade sie wurden in diesem Jahr somit zu einem Trostzeichen für uns, besonders aber für alle, die zusätzlich zu ihren privaten Einschränkungen auch noch die Last zusätzlicher Anstrengungen auf sich nehmen mussten, um das Überleben der Stadt zu ermöglichen, die pflegerischen und medizinischen Fachkräfte, die Kassierer_innen in den Geschäften der Grundversorgung, die Erzieher_innen in den zur Notversorgung geöffneten Kitas, und die in den Notdiensten eingesetzten Hilfskräfte sowieso.

In dieser schweren Zeit ist den Anwohnern des Grazer Platzes mit besonderer Deutlichkeit das Fehlen des Weihnachtsbaumes vor der Nathanael-Kirche aufgefallen. Wo sonst schon von weitem den über die Beckerstraße ins sogenannte Malerviertel heimkehrenden Bewohnern der Lichtergruß des Hoffnungsbaums entgegen leuchtete, herrschte dieses Jahr traurige Dunkelheit. Unsere Leserin Karin Kern hat uns deswegen gebeten, der Ursache nachzugehen, und so haben wir uns an die Kirchengemeinde mit der Bitte um Aufklärung gewandt. Und von dort haben wir Erstaunliches gehört.

Danach gab es den alljährlich von Geschäftsleuten der Umgebung gespendeten Baum dieses Mal deswegen nicht, weil es in der Vergangenheit immer wieder zu willkürlichen Angriffen auf dieses Symbol der Hoffnung gekommen war. Die Glitzerkugeln wurden entfernt oder zerstört, die Lichter-ketten wurden durchschnitten, und zuletzt wurden sogar ganze Zweige aus dem Baum herausgesägt, offenbar um ihm auch noch seine immergrün gewachsene Würde zu nehmen - und um dem Gemeindepfarrer Lübke die Vergeblichkeit seiner stets eigenhändig erneuerten Wiederherstellungsbemühungen vor Augen zu führen.
Da stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieser Zerstörungswut wie von selbst. Und wenn wir mit Kant der Frage nach dem Ursprung des Ursprungs nachgehen, können wir angesichts der kriminellen Energie des Wiederholungszwangs und der Anonymität der Tat eigentlich nur folgern, dass hier ein Täter auf anonyme Weise die Zerstörung seiner eigenen Hoffnung durch unbekannte Taten anderer Täter öffentlich machen wollte. Offenbar lag ihm daran, nicht nur seine eigene Hoffnungslosigkeit mitzuteilen, sondern auch die Hoffnung seiner Mitmenschen zu verstören. Fragen wir aber nach dem Anfang dieser Hoffnungslosigkeit, so finden wir sie wohl dort, wo sie der Gemeindepfarrer Lübke gesucht hat.

In einem berlinweit einmaligen Projekt gründete er vor 15 Jahren in der Rubensstraße  einen kirchlichen Diakonieladen, der mit drei hauptamtlichen und 30 ehrenamtlichen Kräften ein umfangreiches Hilfsangebot bereitstellte. Hier wurden nicht nur gespendete Lebensmittel, Kleidungsstücke und Kleinmöbel an Bedürftige weitergegeben, hier gab es auch Hilfestellung etwa beim Ausfüllen von Anträgen für Sozialleistungen. Sogar Beratungen in Mietrechtsfragen wurden angeboten, oder die gemeinsame Erarbeitung eines Leitfadens für die Rückkehr in ein geregeltes Leben. Leider musste dieses Projekt im vergangenen Jahr aufgegeben werden, weil Pfarrer Lübke wegen rücksichtsloser Überforderung der eigenen Kräfte schwer erkrankte. Es mutet daher wie Ironie an, dass ausgerechnet diese unermüdliche Seele tätiger Nächstenliebe nun an der Stelle ausfällt, wo sie wie nirgends sonst so dringend benötigt wird, gerade auch von Menschen wie dem unbekannten Hoffnungsbaumzerstörer.

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