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13.11.2022 / Menschen in Schöneberg

Krieg und Frieden im Kirchenraum

Von Ottmar Fischer. Wer in Friedenau in diesen Tagen am Eingangsportal der Kirche Zum Guten Hirten vorbeikommt, sieht unter der segnenden Christus-Figur die ukrainische Fahne als Zeichen der Solidarität aufgespannt. Und wie in der Stadtteilzeitung bereits berichtet, ist das Engagement der Gemeinde für ukrainische Geflüchtete unlängst erst vom Bezirksamt mit einer Preisdotation in Höhe von 2.000 Euro gewürdigt worden.
Das Eingangsportal der Kirche Zum Guten Hirten. Foto: Elfie Hartmann

In der amtlichen Laudatio hieß es dazu:
„Die Kirchengemeinde Zum Guten Hirten engagiert sich bereits seit März für Geflüchtete aus der Ukraine. Bis zu 20 Menschen finden in den Räumen der Gemeinde kurzfristig eine Möglichkeit zur Übernachtung und Erstversorgung. Mit der Konzertreihe FRIEDE NOW wird außerdem an zehn aufeinander folgenden Dienstagabenden mit Werken aus unterschiedlichen Kulturen von der Renaissance bis ins 21. Jahrhundert dem Wunsch nach Frieden musikalisch Ausdruck verliehen.“

Bei der Dienstag-Reihe FRIEDE NOW hat es die Gemeinde aber nicht bewenden lassen. Erst am letzten Septembersamstag fand in der Kirche ein weiteres Benefiz-Konzert für die Ukraine-Hilfe statt, bei dem das Freie Sinfonieorchester Berlin Werke von Händel, Bach und Mendelssohn-Bartholdy zu Gehör brachte. Und wer davon Kenntnis hat, dass seit vielen Monaten jeden Mittwoch um 18 Uhr eine Orgel-Vesper stattfindet, konnte bei einem Besuch am 21. September erleben, dass die Orgel als Instrument nicht nur für die musikalische Repräsentation von Glaubensinhalten geeignet ist, sondern auch für die emotionalisierende Schilderung menschlichen Leids , so wie das die notleidende Bevölkerung in der Ukraine gerade ertragen muss.

Nach zwei einleitenden Wiedergaben gotischer Meister, die in pastoraler Anmutung das friedliche Nebeneinander im ländlichen und städtischen Treiben mittelalterlichen Lebens vorführten, folgten zwei spätmittelalterliche Stücke, die zur Konzentration der Kräfte in Prozession und Heilsanrufung aufzurufen schienen. Und auch der Beginn der nachfolgenden „Litanie for Organ“ des kürzlich verstorbenen holländischen Komponisten und Organisten Jan Welmers beginnt zunächst mit einer im flirrenden Sonnenlicht beheimateten Idylle.

Frieden, Krieg, Frieden
In hohen und wellenförmig wiederkehrenden Schwankungen aus immergleichen Miniaturen kleinster Tonschleifen entsteht vor dem geistigen Auge des gebannten Zuhörers zunächst die Vorstellung entspannten Friedens. Doch nach einer Weile lösen sich einzelne Tonspuren aus dem magischen Band, fallen aber  wie die Protuberanzen der Sonneneruptionen stets wieder zurück in die Konstanz, bis die wiederkehrende Unruhe so sehr an Kraft gewinnt, dass sie das Gleichgewicht der Kräfte zunächst verbiegt und dann zerbricht.

Und dann bricht die Hölle los. In Riesenschritten reißen unbezwingbare Kräfte die gesamte Tonskala der Orgel bis in die tiefsten Bässe auf, so dass alles wogt und im erschreckenden Dissens durcheinander keilt, bis schließlich keine Rettung mehr möglich scheint. Doch am tiefsten Punkt der Verzweiflung, als die Orgel alle Töne gleichzeitig und im gleichen Mutwillen in den Kirchenraum schleudert, lässt der Gewittersturm plötzlich und zuerst fast unmerklich nach, es erscheinen wieder die Linien vom Flirren des welligen Stillstands vom Anfang, und schließlich löst sich nicht nur das Chaos, sondern danach auch noch die Idylle des Trillerns auf, hat sie sich doch im Aufkommen des Krieges als trügerisch erwiesen, und übrig bleibt allein der lang und bis ans Ende ausgehaltene Grundton, erhoben zu lichter Höhe. Endlich Frieden, ruft die Orgel.

Erschüttert fühlt sich der Zuhörer an das Schicksal der von Putins Armee gequälten Bevölkerung in der Ukraine erinnert, denn auch dort schien in der  postsowjetischen Ära nach dem Start der Demokratiebewegung eine Zeit des friedlichen Aufbruchs eingeleitet zu sein. Und doch endete die Idylle des hoffnungsvollen Anfangs im Orkan des Krieges. Die militärischen Erfolge der ukrainischen Armee und die deswegen erfolgte Teilmobilmachung von 300.000 Reservisten in Russland zeigen an, dass die Qualen auch noch nicht vorüber sind. Um es mit den musikalischen Mitteln der im Orgelkonzert zu Gehör gebrachten „Weheklage für Orgel“ auszudrücken, denn so ist das Stück wohl am besten auf Deutsch zu benennen, bleibt  die ganze mitfühlende Welt auch weiter noch mit dem infernalischen Mittelteil konfrontiert. Aber wie der friedvolle Ausgang des Stückes aufgezeigt hat, wird auch der Krieg in der Ukraine in einen Frieden münden.

Zum Schluss noch ein Sonderapplaus für den Organisten David Schirmer, der nicht nur dem geschilderten Höllenspuk eine über die Vorlage hinausgehende Interpretation voller Eindringlichkeit und Emphase zuteil werden ließ, sondern auch die übrigen Musikstücke pfleglich zu behandeln wusste. So konnte auch die am Schluss gebotene Fuge in C-Dur von Bach einem erleichterten Publikum die ersehnte Tröstung verschaffen. David Schirmer gab dieser denkwürdigen Orgel-Vesper den Titel „Urklang“, und von den Urkräften Krieg und Frieden handelte ja auch die Musik dieser Veranstaltung zum 75. Jubiläum der Reihe.
Der Organist war nach seinen Angaben einst selbst ein faszinierter Zuhörer dieser seinerzeit vom damaligen Kirchenmusikdirektor Gerhard Löffler ins Leben gerufenen und mit Orgel-Leben ausgefüllten Mittwochs-Konzerte gewesen. Dass er nun nach dem Weggang seines Vorbilds und nach einer von der Gemeinde schmerzlich empfundenen Pause diese erfolgreiche Reihe wieder hat aufleben lassen, verdankt sich aber auch dem Umstand, dass er vor drei Jahren Vater geworden ist und sein Leben nach den Vorgaben von Konzertreiseterminen beenden musste. Für den Erhalt dieser wöchentlichen Orgelkonzerte wird nun wichtig, dass die Kunst des Organisten mit einer Festanstellung gesichert wird.

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