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25.06.2022 / Projekte und Initiativen

Ein Phänomen wie ein Regenbogen

Von Maria Schinnen. Nicht viele Menschen schaffen es, als literarische Figur in Romane oder Erzählungen aufgenommen zu werden. Walther Rathenau war ein solcher Mensch.
Dr. Walter Rathenau, Bundesarchiv, Bild 183-L40010 / CC-BY-SA 3.0

Ihn wählten eine ganze Reihe Schriftsteller als Modell für einen bestimmten Charakter, meist als Kontrast zu einer anderen Figur. Fiktional oder real, verschlüsselt oder namentlich genannt, tauchte er als Neben-, Rand- oder tragende Figur auf. Nicht weniger als acht Nachweise führt Wikipedia hierfür auf, weitere nennt Laura Said in ihrer Studie. Wir begegnen ihm in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, in Hugo von Hofmannsthals „Der Schwierige“, in Friedrich Karl Kauls „Mord im Grunewald“.  Mal steht er für einen assimilierten Juden, mal für einen Märtyrer der Weimarer Republik, mal für einen Täter, mal für ein Opfer in Krimis, und gleich zwei Spielfilme handeln von seiner Ermordung und deren Hintergründen. Was reizte die Autoren am Charakter Rathenaus?

Es war sicherlich sein Charisma, seine fesselnde Ausstrahlung, die auf der Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeitsstruktur beruhte, ein schillernder Mensch, „ein Phänomen wie ein Regenbogen“, wie Robert Musil Dr. Paul Arnheim charakterisierte, für den Rathenau die literarische Vorlage bot. „Was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person…“

Für Stefan Zweig war Rathenau einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben, der seinen Blick weg vom Literarischen, hin zur Wirklichkeit lenkte. Seine erste Begegnung mit ihm war für den Schriftsteller so ungeheuer charakteristisch, dass er sie im Detail beschrieb. Zweig hatte ihn einen Tag vor Rathenaus mehrwöchiger Reise nach Südwestafrika angerufen. Doch ein Treffen schien unmöglich, Rathenaus Tag war bereits mit Konferenzen, Besprechungen im Ministerium und Klubdiner verplant. Aber um 23:15 Uhr hatte er noch Zeit. Man plauderte bis zwei Uhr nachts und um sechs Uhr in der Frühe reiste er ab. Das zeigte, so Zweig, dass Rathenau, obwohl sein Tag bis auf die einzelne Minute eingeteilt war, immer noch Zeit für ein Gespräch mit einem Freund fand. Trotz später Nacht brillierte sein Geist, er konnte schnell von einem Thema zum nächsten schalten, sprach fließend und druckreif, als ob er von einem unsichtbaren Blatt ablesen würde, wog seine Argumente ruhig ab, überschaute alles, nie ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Zweig war fasziniert von seiner „unermesslichen Klugheit“, der „kristallenen Klarheit im Denken“, aber auch seiner Widersprüchlichkeit. „Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche … Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus, er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedes Mal hoch geehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden.“  Trotz aller Hellsichtigkeit und geistigen Überlegenheit spüre man, so Zweig weiter, dass er keinen Boden unter den Füßen hatte. „Seine pausenlose Tätigkeit war vielleicht nur ein Opiat, um seine Nervosität zu überspielen und die Einsamkeit zu töten, die um sein innerstes Leben lag.“

Das Haus in der Königsallee 65 im Grunewald wurde Rathenaus Elfenbeinturm, den er selbst entworfen, mit Stilelementen von Schinkel und Gilly ausgestattet und dessen Bau er täglich Stein für Stein überwacht hatte. Außen wirkte die Villa eher karg und Ehrfurcht einflößend: schmale Fenster, enges Portal, durch das nur ein Besucher eintreten konnte, umrahmt von zwei schlanken Fichten, deren Setzung er persönlich kontrolliert hatte. Das Innere der Villa war luftig und weit, hatte saalartige, miteinander verbundene Räume. Möbliert wurden sie spartanisch, ohne überflüssigen Dekor, doch geschmackvoll und repräsentativ. Rathenau hatte einen hohen künstlerischen Formenanspruch in der Auswahl der Möbel, Tapeten, Farben und Ornamente. Die Einrichtung strahlte Würde und Ruhe aus, aber auch Kühle und Distanz, ein preußisches Herrenhaus, das seinem Hang zum Repräsentieren Rechnung trug. Hier begann und endete sein 17-stündiger Arbeitstag, hier empfing er seine Gäste, Künstler, Schriftsteller, Philosophen.

Eine zweite repräsentative Immobilie verlieh ihm aristokratischen Glanz, Schloss Freienwalde, 30 km östlich von Berlin. Den ehemaligen Sommersitz der preußischen Königin Friederike Luise hatte er aus dem Kronbesitz erworben und rettete das lange ungenutzte Schloss vor dem Verfall. Er ließ den alten Zustand wieder herstellen und mit dem Originalmobiliar von Friederike Luise ausstatten. Äußerlich wirkte es herrschaftlich, innen kühl und intellektuell. Die großen Räume wurden sparsam eingerichtet, wirkten gediegen, aber unpersönlich. „Man konnte nicht warm werden vor lauter Ordnung, Sauberkeit und Übersichtlichkeit“, fand Stefan Zweig. Hierher zog Rathenau sich am Wochenende zurück und pflegte seine Gärten.

Es gab keine Ehefrau an Rathenaus Seite, er galt als homoerotisch. Dennoch wurde eine Frau der wichtigste Mensch in seinem Leben, Lili Deutsch, verheiratet mit Felix Deutsch, Direktor und Vorstandsmitglied der AEG. Zunächst begann die Beziehung mit Briefen, die bald inniger wurden. Walther vertraute sich ihr an, erzählte ihr seine Probleme beim Schreiben, seine Sehnsucht nach einer Existenz als Künstler, seine Zweifel an sich selbst, sein Leiden an der Beziehung zu ihr. Das imponierte der eher kühlen Direktorengattin. Sie war oft allein, da ihr Mann für die AEG unterwegs war und da kam ihr der brillante Gesprächspartner Rathenau gerade recht. Zunächst hörte sie ihm eher freundlich, etwas gönnerhaft zu, sie konnte sich in diesen schwierigen Charakter gut einfühlen. Doch dann zeigte Rathenau ihr gegenüber eine Sehnsucht und Sensibilität, die sie betörte. Die Freundschaft wurde immer enger, fast täglich erschien er im Hause Deutsch. Niemand nahm Anstoß daran, da die intensive Zusammenarbeit mit ihrem Mann allgemein bekannt war. Immer stärker fühlte Lili sich zu Walther hingezogen und wollte mehr, wollte eine sexuelle Beziehung. Doch dazu war Walther nicht bereit. Es kam nie zu einem intimen Kontakt. Das kränkte Lili. Sie verstand seine Gründe und Ausflüchte nicht, war verzweifelt. Daraufhin suchte sie sich einen Verbündeten, einen Freund von Rathenau, und zeigte ihm einen von Rathenaus Briefen, in dem der sich über den Freund negativ geäußert hatte. Als Rathenau von diesem Vertrauensbruch erfuhr, war er außer sich und brach seine Beziehung zu beiden ab. Auch viele Jahre später konnte Lili ihre tiefe Verletzung nicht überwinden und versuchte, ihm durch Unterstellungen in der Öffentlichkeit zu schaden.

Rathenau verliebte sich später noch in andere Frauen. Auch diese Kontakte waren stets rein platonisch. Doch keine Beziehung wurde ihm je wieder so wichtig, wie die zu Lili Deutsch. Sie blieb seine leidenschaftlichste Liebesaffäre.

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