Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

11.10.2017 / Menschen in Schöneberg

Die gelbe Linie

Busfahrer sind die wahren Helden der Großstadt. Daran besteht kein Zweifel. Bei Schichtbeginn fahren sie fröhlich pfeifend los, später dann reagieren sie manchmal eher pampig und gerne auch passiv-aggressiv.
Foto: Thomas Protz

Wem ginge es nicht so, wenn er einen „großen Gelben“ durch die Straßen Berlins lenken müsste. Wer würde nicht davon träumen, den Bus einfach mal stehen zu lassen. Immer diese Fahrgäste, die sich nicht einmal an einfachste Regeln halten! Nehmen wir zum Beispiel die gelbe Linie. Wenn die überschritten wird, sieht so mancher Busfahrer rot.

Neulich erst. Ich wartete mit meiner Sporttasche, einem Rucksack und einer Einkaufstasche am Walther-Schreiber-Platz auf den Bus. An der Bushaltestelle stand eine komplette Grundschulklasse, die ebenfalls mitfahren wollte. Der Bus M76, mit dem ich fahren wollte, kam diesmal nicht als langer Gelenkbus, so wie immer, sondern hatte die (gefühlte) Größe einer Sardinenbüchse. Da wusste ich schon, das wird mal wieder so eine Fahrt mit sehr viel Körperkontakt.

Die Sardinen, sprich die Kinder und Erwachsenen, quetschten sich aneinander und füllten den Bus nahezu lückenlos aus. Jetzt passierte, was passieren musste. An jeder Haltestelle blockierten die Bustüren des M76. Die Lichtschranke über den Türen reagiert nämlich hochsensibel, wenn jemand auf der gelben Linie steht. Eigentlich weiß das doch auch jedes Kind, dass man in Berliner Bussen nicht auf der gelben Linie stehen soll. Trotzdem stand bei dieser Fahrt immer irgendjemand auf der gelben Linie. Als Sardine im Bus ging es auch kaum anders.

Also bei jedem Halt dasselbe Spiel: Tür zu, Tür auf, Tür noch einmal zu. Nicht nur die Türen, auch der Busfahrer reagierte hochsensibel, war genervt, und drohte schließlich: „Türen frei geben, sonst kann ich nicht weiterfahren! Mir ist es egal, ich bleib’ auch den ganzen Tag hier, wenn es sein muss. Mir kann das egal sein.“

Oh nein, nicht schon wieder, dachte ich. Ich hatte nämlich schon ein paar Mal das zweifelhafte Vergnügen, dass ein Busfahrer einfach nicht weiterfährt. Und ich rede nicht von Stau, blockierten Türen oder einem technischen Defekt. Es war meist eine spontane Trotzreaktion aus folgenden Gründen: ein Fahrgast mit Döner, eine Frau, die auf den Boden gespuckt hatte, ein zu großes Gepäckstück und einmal ein Fahrrad (!), das einer mitnehmen wollte. Ganz mysteriös wurde es, als ein Busfahrer nicht weiter fuhr und keinen Grund nannte. Er sah uns alle nur strafend an. Unter den Fahrgästen setzte ein heiteres Rätselraten ein. War der Bus kaputt? War dem Busfahrer schlecht? Was war los? Erst nach einer (gefühlten) Stunde und nach geschickter Befragung durch einen Fahrgast, kam es dann heraus: Ein Fahrgast war hinten eingestiegen und hatte seinen Fahrschein nicht vorgezeigt. Darüber war der Busfahrer so sauer, dass er erst einmal nicht darüber hatte reden können.

Den ganzen Tag stehen zu bleiben und nicht mehr weiter zu fahren, war nach diesen Erfahrungen nicht unbedingt eine leere Drohung für mich. Wie der Busfahrer das dann allerdings hinterher den Kollegen und der BVG erklären wollte?

„Ja, also das war so: Ich hatte gesagt, dass ich hier nicht mehr weiterfahre, ständig waren die Türen blockiert, das passte ja auf keine Kuhhaut wie sich die Leute verhielten, da rutschte mir das so raus, dass wir von mir aus den ganzen Tag hier bleiben können, und da haben alle Fahrgäste gesagt, ja schön, fein, ist ja Freitag, bleiben wir alle den ganzen Tag hier, ist doch auch mal lustig. Da war so eine Frau mit einer Sporttasche, einem Einkaufsbeutel und einem Rucksack und die hat dann gesagt, das ist mal eine gelungene Abwechslung. Die Kinder haben alle im Chor geschrien: Was man verspricht, muss man auch halten, Herr Busfahrer!“

Als ich aus meinem Tagtraum erwachte, setzte sich der Bus dann doch in Bewegung. Unglaublich wie sich Menschen zusammenquetschen können, wenn es sein muss!

Vielleicht liegt es auch an der missverständlichen Formulierung: „Türen freigeben!“ Die Menschen sind oft so schwer von Kapee. Gerade die Anfänger. Fortgeschrittene Fahrgäste dagegen erkennt man daran, dass sie routiniert Aufklärung betreiben, die Unwissenden von der gelben Linie wegzerren und dem Busfahrer aufmunternde Worte zurufen. Sie leben nach dem Motto: Frag nicht, was der Busfahrer für dich tun kann, frag dich, was du für den Busfahrer tun kannst. Hauptsache, der Bus fährt weiter.

Isolde Peter 

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