Zur Orientierung für Menschen mit Behinderungen

28.05.2020 / Menschen in Schöneberg

Die Allmacht der Kassen

Maria Schinnen Seit ihrer Geburtsstunde 1883 gehört die gesetzliche Krankenversicherung zum sozialen Auffangnetz in Deutschland. Doch ist sie wirklich sozial?
Else Weil. Foto: Literaturmuseum Schloss Rheinsberg

Vor 100 Jahren schon bezweifelte die Kassenärztin Dr. Else Weil aus Friedenau, Ehefrau von Kurt Tucholsky, deren ernsthafte soziale Gesinnung. Am 17. Juni 1920 machte sie ihrem aufgestauten Ärger Luft und prangerte in ihrem Artikel „Kassenärzte“ die Allmacht der Kassen und ihr unsoziales Gebaren öffentlich an. Wir zitieren einige wichtige Auszüge. Man klopfe sie getrost auf ihre Aktualität ab.

„Die wirtschaftlichen Anstellungsbedingungen für die Kassenärzte lassen die zwei Möglichkeiten zu: entweder er untersucht und behandelt seine Patienten gründlich und gewissenhaft und verhungert dabei; oder er lässt es die Masse machen und erledigt einen großen Schub Patienten oberflächlich und fabrikmäßig. Die Kasse bezahlt den Arzt so schlecht, daß sie ihm eine gründliche Behandlung unmöglich macht, und daß er nicht imstande ist, sorgenlos, in Ruhe wissenschaftlich zum Wohle seiner Patienten weiterzuarbeiten. Das ist unsozial gegen den Arzt gehandelt.“

„Der Kassenarzt bekommt zur Zeit von einer großen Kasse monatlich 2,80 Mark für jeden Patienten, gleichgültig, ob er diesen Patienten täglich behandelt oder nur ein einziges Mal. Nehmen wir an, daß der Patient wöchentlich ein Mal kommt, so beträgt das Honorar für jeden Besuch siebzig Pfennige. Nun ist ein Arzt imstande, bei gründlicher Untersuchung in einer Stunde höchstens sechs Patienten zu erledigen; demnach haben wir einen Stundenlohn von vier Mark. Der Patient wünscht anständige Untersuchungs- und Warteräume, aufmerksame Bedienung, einen sauber gekleideten Arzt, helle Beleuchtung und vorzügliche und gepflegte Instrumente. Dieser Etat ist bei einem Stundenlohn von vier Mark nicht zu bestreiten. Er ist nur zu bestreiten, wenn der Arzt nicht sechs, sondern – wie in den militärischen Revierstuben – sechzig Patienten in der Stunde erledigt, jeden einmal die Zunge herausstrecken läßt und seinen Namensstempel unter irgendein fertiges Rezept drückt.“
 
„Da behaupten nun die Kassen-vorstände, es sei die soziale Pflicht der Ärzte, keine höheren Honorare zu fordern. Dieser sozialen Pflicht stehen keine sozialen Vorrechte gegenüber. Unabhängig von ihrer sozialen Pflicht sind Apotheker, ärztliches Hilfspersonal, die Kassenangestellten selbst in ihrer Entlohnung erhöht worden. Der Arzt nicht. Nun hat aber nicht nur der Arzt eine soziale Verpflichtung, sondern auch die Kasse hat eine, und sie hat sie gegen den Patienten und dem Arzt.“

„Die Kasse verbietet in einem alljährlich erscheinenden Buch dem Arzt eine große Anzahl von Medikamenten zu verschreiben, weil sie zu teuer sind. Sie verweist auf Ersatzpräparate. Weitere Medikamente werden in ihrem Gebrauch eingeschränkt. (So dürfen Eisenliköre bei dem heutigen schlechten Ernährungszustand nur alle vierzehn Tage verschrieben werden.) Die meisten Paragraphen dieses Buches verbieten etwas, und bei Übertretung dieses Verbotes muß der Arzt Strafe zahlen. Die Kasse liefert ihren Patienten schlechte Brillengestelle, sodaß der arme Kerl lieber etwas zuzahlt, damit ihm das Leseglas überhaupt auf der Nase sitzt.“

„Der Arbeitgeber gibt dem Kranken zum Arzt einen Schein mit, von dem der Arzt einen Teil für sich als Liquidationsausweis für die Kasse behält und einen Teil dem Patienten zurückgibt; auf beiden Abschnitten soll die Krankheit in deutscher Sprache vermerkt werden. Der Arbeitgeber hat das Recht, den Kassenzettel des Patienten zu sehen. Es besteht die Möglichkeit, daß der Arbeitgeber Veranlassung nimmt, dem Patienten (zum Beispiel bei einer Geschlechtskrankheit) zu kündigen oder ihm bei seinen Mitarbeitern zu schaden. Das ist von der Kasse unsozial gegen den Patienten gehandelt.“

„Die Kasse mit der sozialen Pflicht hat als Höhepunkt etwas geschaffen, was sie die vetrauensärztliche Untersuchung nennt. Wenn der Kassenpatient von seinem behandelnden Arzt für drei Wochen krank geschrieben ist, so wird er zur Untersuchung von einem Arzt vor den Vertrauensarzt bestellt. Der Vertrauensarzt kennt den Patienten und seine Krankengeschichte nicht aus eigener Erfahrung. Der Vertrauensarzt untersucht, und er untersucht im Interesse der Kasse, die ihre Ausgaben möglichst drücken will. Wir haben also folgendes Bild: Der bisher behandelnde Arzt, sagen wir: ein vertrauenswürdiger, anerkannter Spezialist, muß sich diese Nachuntersuchung seines Patienten durch einen beliebigen praktischen Arzt mittlern Kalibers gefallen lassen. Das ist nicht sozial gegen den Patienten gehandelt.“

„Bei den Krankenkassen ist, wie bei allen deutschen Institutionen, die Verwaltung ins Maßlose angeschwollen. Sie empfindet sich als das Zentrum der Dinge und frisst den Zweck der Einrichtung auf. Die Krankenkassen scheinen in erster Reihe für sich selbst da zu sein. Wenn sie ein Zehntel der Sorgfalt, womit sie ihre Verwaltungsgebäude, Kompetenzen, In-stanzen, Büros und Formulare entwerfen, auf den Patienten und seine Unterstützung verwendeten, wäre allen wohler.“

„Letzten Endes dient die wirtschaftliche Hebung des Ärztestandes dem Patienten, der instinktiv zu einem fundierten Arzt mehr Vertrauen hat als zu einem halbverhungerten Barbier.

Unsere Forderungen sind:

  • Abschaffung des numerus clausus der Kassenärzte
  • Freie Arztwahl durch den Patienten
  • Erhöhung der Arzthonorare
  • Erweiterung des Kreises der zulässigen Medikamente
  • Verminderung der Verwaltungskosten der Kassen
  • Abschaffung der vertrauensärztlichen Untersuchung“

* Über Else Weil
Als eine der ersten Frauen hatte sie in Berlin Medizin studiert und praktizierte als niedergelassene Ärztin in der Kaiserallee 79 (heute Bundesallee). 1911 verbrachte sie ein gemeinsames Wochenende mit Kurt Tucholsky und wurde das Vorbild der „Claire“, einer zauberhaften lebenslustigen jungen Medizinerin, in seinem Roman „Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte“. 1920 wurde sie seine erste Ehefrau. Die Ehe hielt jedoch nur vier Jahre. 1924 ließ sie sich wegen seiner ständigen Frauenaffären wieder scheiden.

Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verlor sie 1933 die Zulassung zur kassenärztlichen Vereinigung und 1938 die Approbation und damit die Berufserlaubnis. Sie emigrierte nach Frankreich, wurde hier mehrfach inhaftiert und 1942 nach Auschwitz deportiert und getötet.

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