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01.07.2021 / Gewerbe im Kiez

Die Akazienstraße und „Fichu“

Von Elfie Hartmann. „Oleg ist tot. Er ist am 6.5.21 an einer Sepsis gestorben. Vorher haben sich drei Freunde um ihn gekümmert, soweit Oleg es zugelassen hat. Er war nicht krankenversichert und hat sein Leben stolz, wild, sinnlich, zart, nachdenkend und wissend, frei und so gelebt und beendet, wie er war - eben: OLEG.“ Dem sind drei kleine gemalte Herzchen hinzugefügt.
Foto: Elfie Hartmann

Diese Worte stehen auf der Zettelnachricht, angebracht an der Schaufensterscheibe seines Geschäftes in der Akazienstraße 21 in Schöneberg. Dazu sind zahlreiche Fotos von ihm ausgehängt, die ihn in all seinen Facetten und Lebensabschnitten zeigen. Ein Kondolenzbuch ist ausgelegt.
Man darf behaupten, dass wohl niemand die Akazienstraße je beschritten haben kann, der sein einzigartiges Stoffgeschäft übersehen hatte, nicht davon gehört oder in den Medien etwas von ihm erfahren hatte. Es war einfach eine feste Institution und zwar untrennbar verbunden mit dem Inhaber selbst.Von welcher Art Geschäft die Rede ist, kann man mit entsprechenden Infos, zusammengetragen von Bettina von Kleist, an der Schaufensterscheibe gut sichtbar angebracht, verinnerlichen.

Nirgendwo war die Auswahl an extravaganten Stoffen und Knöpfen so groß wie in diesem kleinen Laden, genannt „Fichu“. Das Schaufenster misst keine zwei Meter.  „Fichu“ ist der französische Name für das Geschäft, es heißt übersetzt kaputt, vorbei, erledigt. Oder auch verschroben, ausrangiert, ungewöhnlich. In der Auslage hinter der schmalen Schaufensterscheibe leuchteten schrill gemusterte Stoffe, handgefertigte Knöpfe von Chanel, Schnallen und fantasievoller Schmuck. Konfektioniert war hier nichts.
In genauso fantasievollem, oft schrillem Outfit stand oder saß der Inhaber, Oleg Ilyapour, als Hüne unübersehbar, vor oder in der Nähe seines Geschäftes und grüßte etwa jeden zehnten Passanten. Welch kostbare Raritäten sein Laden barg, zeigte sich erst auf den zweiten Blick. Bis in den hintersten Winkel des langgestreckten Raumes türmten sich schwere Kostüm- und Anzugstoffe aus den 30er und 40er Jahren, grober Tweed für Mäntel und originaler „Earl of Wales“, Batist, Gabardine, Ripse, Lavabel und Brokat.
In den 50er Jahren wurden aus Kräuselkrepp Badeanzüge oder auch hautenge Cocktailkleider für Stehempfänge geschneidert. Zubehör in hunderten von Schachteln bestückt mit Borden, Bändern, Puderdosen und Knöpfen von Art Deco bis Pop waren hier zu finden.„Fichu“ war ein Mekka für Individualisten, ein Geheimtipp für Restaurateure, Museen und immer wieder auch für Film- und Theaterleute.
Wer war Oleg und wie kam er zu diesem Laden? Oleg Ilyapour übernahm das Geschäft von seiner Mutter, die 1928 mit dem Stoffhandel auf Wochenmärkten begonnen hatte. Der Familienname lässt auf eine Herkunft aus einer iranischen Nomadenfamilie schließen. Er selbst wurde jedoch als waschechter Schöneberger hier im Kiez geboren, ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen.
Als er seinen Beruf als Erzieher aufgab und den Laden seiner Mutter übernahm, geschah das  schlicht aus Liebe zur Sache. Mitte der 60er Jahre lag der Stoffhandel allerdings brach in der Akazienstraße. Schwere Stoffe waren out. Trotzdem pflegte und hegte Oleg die Raritäten weiterhin sorgsam. Zwei Monate dauerte es jeweils, zweimal jährlich sämtliche Stoffballen völlig ab- und wieder aufzurollen, damit sich kein Ungeziefer einnisten konnte oder die Stoffe brüchig wurden. Internationalen Bekanntheitsgrad erreichte er zwar erst langsam aber stetig. Ein Amerikaner zum Beispiel suchte ratlos nach einem Vorhangstoff. Etwas in Richtung Miró, Kandinsky, so seine Wunschvorstellung. Er bekam bei Oleg Entsprechendes. Auch der Crèpe-Satin, aus denen die Abendroben kreiert wurden, mit denen Greta Garbo und Marlene Dietrich ihre großen Auftritte hatten, stammten von hier und wurden damals für stattliche 220 DM erstanden, pro Meter.
Die Stoffreste aus der Kleiderkammer des Kaisers vermachte ihm eine Kundin, deren Großtante bei Hofe geschneidert hatte. Konform mit seiner Maxime, niemals Material nur für eine Saison zu verkaufen, sondern Stoffe, die ein ganzes Leben lang halten sollten. Konkurrenz brauchte Ilyapour nie zu fürchten. Er wusste eben herausragend um die Geheimnisse von Webtechnik, Garnart, Druckverfahren und Stoffveredelung. So zählten unter anderen auch Calvin Klein und Donna Karan zu seinen Kunden, wenn von den beiden auch nur Stoffproben erbeten wurden.

Einen Oleg gibt es nun nicht mehr. Was aus seinem Laden wird, ist natürlich - noch - ungewiss. Eine aktuelle Mitteilung betreffs seiner Beerdigung hatten Nachbarn und Freunde am Schaufenster hinterlassen: „Oleg kommt in die Erde.   Auf den Alt-Schöneberg-Friedhof zwischen Belziger- und Hauptstraße, gleich links vom Eingang wird sein Grab sein. Kommt bunt und herzlich, mit allem, was ihr Oleg mitgeben wollt.“
(Info i. d. chocolaterie)

Mit Tränen in den Augen wurde die STZ von einer Anwohnerin gebeten: „Schreiben sie aber nur Schönes über Oleg“.

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