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10.11.2019 / Menschen in Schöneberg

Brutstätte Einheitsschule

Plötzlich war sie keine Utopie mehr, die humboldtsche Idee der Einheitsschule. Die Novemberrevolution 1918 machte sie möglich.
Schulklasse 1919. Bildautor unbekannt

Endlich bestand die Chance, die „alte Schule“ des Kaiserreiches abzuschaffen und mit ihr all die verhassten Attribute der wilhelminischen Erziehung: Disziplinierung durch Drill und Dressur, Standesdünkel, Passivität und Untertanengeist, konfessionelle Indoktrination, der reaktionäre Einfluss der Kirche, die stets mit dem Herrscherhaus eng verbunden war.

Chancengleichheit ohne Klassenschranken war die revolutionäre Idee. Höhere Bildung sollte nicht länger Privileg einer kleinen Elite sein. Das bedeutete im Klartext: Abschaffung des Gymnasiums in seiner bisherigen Form sowie der „Vorschulen“, die ihnen vorgeschaltet waren, Streichung jeglichen Schulgeldes, Abitur und Hochschulstudium auch für Volksschullehrer. Bisher erforderte das „niedere Schulwesen“ kein Abitur. Nach der Mittelstufe besuchte man eine „Präparandenanstalt“ und anschließend ein Lehrerseminar.

Hellsichtig drängten im Dezember 1918 SPD und USPD auf rasche Umsetzung der Reformen, denn sie fürchteten, das Zeitfenster könne sich bald wieder schließen. Zu sehr roch es nach Verlust gesicherter Pfründe der bisher Begünstigten. Und wie zu erwarten formierte sich schon in den Weihnachtsferien 1918/19 Widerstand aus den konservativen Kreisen des Bildungsbürgertums und den beiden christlichen Kirchen. Der mehrheitlich reaktionäre „Philologenverein“ ging auf die Barrikaden. Ein Schulkampf vom Feinsten entstand, der sich im Laufe des ersten Halbjahres 1919 weiter zuspitzte. Zankapfel war vor allem die Einführung der achtjährigen nichtkonfessionellen „Einheitsschule“, die „elastisch“ die individuellen Begabungen und Interessen der Schüler fördern und im Sinne einer „Arbeitsschule“ Theorie und Praxis im Unterricht zusammenführen sollte.
Doch nicht alle reformfreudig Gesinnten wollten die gleichen Reformen. Die Idee geriet zunehmend in die Mühle parteipolitischer Machtinteressen. Die SPD und USPD forderten kostenlose achtjährige, öffentliche, koedukative, nichtkonfessionelle Schulen mit einheitlichen Lehrplänen ohne Einfluss der Kirchen. Die DDP war gegen die Abschaffung des Gymnasiums und wollte christliche Einheitsschulen, sog. „Simultanschulen“, in denen Kinder beider Konfessionen vereint sitzen. Die Zentrumspartei unterstützte zwar die Chancengleichheit, hielt aber am Gymnasium und an den „Bekenntnisschulen“ unter dem Einfluss der Kirche und einer geistlichen Schulaufsicht fest. Die Deutschnationalen lehnten sämtliche Reformideen ab und betitelten die Idee der Einheitsschule als „Kinderzwangszuchthaus“ und „Machwerk der Novemberverbrecher“.

Es folgte im Juni 1919 der „Weimarer Schulkompromiss“, ein Minimalkonsens der unterschiedlichen Parteien. Die Idee der Einheitsschule wurde zwar aufgegriffen, jedoch auf eine vierjährige gemeinsame Grundschulzeit beschränkt. Danach teilte man die Kinder je noch „Anlage und Neigung“ auf Volksschule, Mittelschule und Gymnasium auf. Schulgeld und Lernmittelkosten wurden abgeschafft. Bedürftige Eltern wurden staatlich unterstützt. Konfessionelle und private Schulen wurden auf Antrag der Eltern unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen. Der Religionsunterricht blieb ordentliches Unterrichtsfach, allerdings unter Aufsicht des Staates. Die Lehrerausbildung überließ man den einzelnen Ländern, einige behielten ihr altes System bei. Dieser Kompromiss sollte gelten, solange ein Reichsschulgesetz nicht andere Grundsätze beschließt.
Die progressiven Schulreformer waren enttäuscht. Der SPD wurde Verrat vorgeworfen. Doch eine letzte Hoffnung blieb: das Reichsschulgesetz. Im Philologenverein tobte es weiter. Eine gemeinsame Arbeitsgrundlage gab es nicht mehr. Die Unerträglichkeiten nahmen so lange zu, bis man sich trennte. Am 18. September 1919 gründeten 24 Pädagogen am Werner-Siemens-Realgymnasiums in Berlin-Schöneberg den „Bund Entschiedener Schulreformer“. Sie wollten die achtjährige Einheitsschule nun in dem angekündigten Reichsschulgesetz verwirklichen.

Was aber dachte das gut bürgerliche Friedenau zur Einheitsschule? Hier einige Zuschriften aus dem „Friedenauer Lokalanzeiger“:

Dr. Hennig am 13.9.1919:  Mit dem beschleunigten Abbau der privaten Vorschulen und dem dadurch bedingten Zwang zur Einheitsschule wird weiten bürgerlichen Kreisen Friedenaus ganz oder gar kein Gefallen erwiesen. Wo die Einheitsschule bisher durchgeführt worden ist, hat sie nur den einen „Segen“ gehabt, dass sie zur Verbreitung der Läuse- und Krätzeplage auch in solchen bürgerlichen Kreisen beitrug, die sonst von derartigen kulturellen Annehmlichkeiten nichts wussten - es sei denn, dass in der Schule selbst (wie z.B. in Pirna) die schmutzigen von den reinlichen Kindern schärfstens abgetrennt werden, was aber wieder den Sinn der Einheitsschule illusorisch machte. Unter solchen Umständen werden wohl künftig weite Kreise Friedenaus dem von Herrn Kultusminister Haenisch selbst gegebenen Beispiel folgen und ihre Kinder in den ersten Jahren privat unterrichten lassen, statt sie der Einheitsschule anzuvertrauen.

Frau Rudbeck am 18.9.1919:  Die Zuschrift des Herrn Doktor Hennig habe ich mehrere Male durchgelesen, weil ich meinen Augen nicht trauen wollte, dass es noch Menschen gibt, die so unsozial, so lieblos denken, um so schreiben zu können. Die Einheitsschule soll wirklich einen anderen Zweck haben, als eine Läusefalle zu sein … Herr Dr. Hennig traut den Angehörigen der bürgerlichen Kreise anscheinend nur das eine zu, dass sie sich Ungeziefer holen, er verkennt auch hier den Zweck der Einheitsschule, und der ist „die soziale Hebung unseres Volkes durch gemeinsame Erziehung unserer Jugend.“ Diese kulturelle Förderung wird sicher nicht zur Vermehrung der Läuse und Krätze, die übrigens in den feinsten Familien vorkommen, beitragen. Je höher ein Volk in der Kultur steht, umso geringer die Zahl der Lausejungen …

Frau Bierow am 18.9.1919:  Zu dieser Zuschrift möchte ich folgendes anmerken: Es ist dem Herrn Einsender wohl auch bekannt, dass in der Vor- und höheren Schule genau dieselben Läuse zu finden sind, wie in der Volksschule, oder gibt es auch gebildete und ungebildete Läuse? Wenn die Läuse und Krätze das letzte Hindernis für die Einheitsschule bilden, dann wollen wir dieses sehr schnell beseitigen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich erwähnen, dass mir aus meiner früheren Tätigkeit bekannt ist, dass erwachsene Schüler der höheren Schule sogar syphiliskrank waren. Das ist doch wohl eine viel hässlichere Seuche als Volksschulläuse und Krätze. Es ist höchste Zeit, dass dieser elende Dünkel aufhört.

M-n. am 19.9.1919: Sie betrachten die Volksschule als den Herd der Seuchen und sträuben sich energisch, ihre Kinder dieser Lebensgefahr preiszugeben. Wenn Ihre Kinder in den höheren Lehranstalten von Ungeziefer verschont geblieben sind, so danken Sie dies Ihrer mehr praktisch als theoretisch denkenden Frau. Ich habe zwei Mädchen im Alter von elf und neun Jahren. Unser Prinzip ist, die Kinder zu deutschen Hausfrauen zu erziehen, die weder Englisch noch Französisch brauchen. Aus diesem Grunde besuchen sie die Friedenauer Gemeindeschule. Dank der großen Aufmerksamkeit der Lehrerinnen sowie des Schularztes sind meine Kinder noch nie mit Ungeziefer nach Hause gekommen …

Die achtjährige Einheitsschule blieb übrigens Utopie. Der „Bund Entschiedener Schulreformer“ konnte sich bei der Reichsschulkonferenz 1920 in entscheidenden Punkten nicht durchsetzen. Dem konservativen Flügel des „Philologenvereins“, den Kirchen und der Zentrumspartei gelang es, die revolutionären Bestrebungen zurückzuweisen. Die SPD stand unter Koalitionszwängen. „Ein großer Aufwand schmählich ist vertan!“ (Aus Goethes Faust)

Maria Schinnen
Hartmut Ulrich

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